Vellum: Roman (German Edition)
Pflichten drücken, die beten, dass sie nie von ihnen eingeholt werden.«
»Und das ist Ihr Job, was?«, sagt sie. »Sie einzuholen?«
»Für deinen Freund ist es Zeit, sich zu entscheiden, wo er steht. Auf der Seite der Engel oder bei denen, die ...«
Er bricht ab und mustert sie schweigend.
»Kleine, du hast keine Ahnung, wozu unsere Feinde fähig sind. Du hast keine Ahnung, was die Dämonen dieser Welt dir antäten, wenn wir ... ihnen nicht entgegenträten.«
»Also sind Sie ein Werbeoffizier für den Krieg im Himmel?« Sie lacht. »Auf der Jagd nach Drückebergern und Deserteuren? Wollen Sie ihn mit Gewalt anwerben oder im Morgengrauen erschießen?«
»Ich bin gekommen, um ihn einzuziehen«, sagt der Engel. »Ich bin gekommen, um deinen guten Freund Finnan einzuziehen.«
Vor ihnen kommt Finnans Stellplatz in Sicht.
Eine alte Sepiaphotographie
Das Gebäude sieht aus wie eine alte Sepiaphotographie – vom Sand abgescheuertes Chrom, verrosteter Stahl, und alles ist staubig und braun verblichen. Der alte Airstream-Trailer steht hoch oben auf roten Ziegelstößen und Trägerstelzen, bildet den Mittelpunkt einer größeren Konstruktion aus umgebautem Altmaterial. Zeltbahnen, Wellblech und sogar alte Motorhauben bilden Wände und Dächer von Anbauten, die neben und unter dem eigentlichen Wohnbereich errichtet worden und über eine alte rostige Leiter zugänglich sind.
Hinter diesem industriellen Prachtbau sind Gummireifen aufgestapelt und bilden die drei Wände einer offenen Garage und Werkstatt. Als Dach dient ein veralteter, vier Meter großer Sonnenkollektor, der über Drähte und Kabel mit dem Airstream verbunden ist. Vor dem Hauptgebäude stehen die vom Sand abgeschmirgelten Wracks zweier ausgebrannter Automobile wie zwei Steinlöwen vor den Stufen eines prächtigen Rathauses. Überall liegen elektrische und mechanische Bauteile herum, alt und neu, defekte oder bereits reparierte Computer, Fernsehapparate und Satellitenschüsseln, zerlegte Waschmaschinen und aus Ersatzteilen zusammenmontierte Motorräder.
Finnan hat auch das Motorrad gebaut, auf dem ihr Bruder Thomas davongefahren ist. Eines schönen Tages hat er es einfach abgeholt und weg war er, ohne eine Zeile oder ein Wort des Abschieds. Sie kannte die beiden gut genug, um zu wissen, dass – wenn überhaupt jemand – nur Finnan eine Antwort für sie hätte. Finnan hatte auf alles eine Antwort. Also war sie zu Finnans Stellplatz hinübergestürmt und hatte Stein um Stein gegen das Aluminium des Trailers geworfen, hatte dagestanden, mit den Händen in den Hüften, hatte ihn beschimpft und lauthals aufgefordert herauszukommen, hatte wissen wollen, wohin Tom verschwunden war. Das ist jetzt zwei Jahre her und sie ist überzeugt, dass Finnan noch immer nicht genau weiß, wo Tom steckt, aber sie hat gelernt, ihm in so vielerlei Hinsicht zu vertrauen ... sie hat gelernt, ihm zu glauben, dass Tom gute Gründe dafür hatte unterzutauchen.
Vor allem auch deswegen, weil sie gesehen hat, wozu Finnan in der Lage ist. Sein Stellplatz ist der Inbegriff eines Schrottplatzes, und Finnan ist ein Meister des Schrotts. Er kann aus einer kaputten Küchenmaschine, einem Kühlschrank, einem Elektroboiler und dem Motor eines Busses einen Apparat bauen, der ungeklärtes Abwasser in frisches Wasser, Dünger und sterilen, ungiftigen Staub verwandelt. Aber er kann auch andere Dinge. Sie kann sich noch gut daran erinnern, wie Mac einen seiner ›Anfälle‹ hatte und sie ihn auf dem Boden liegend vorfanden. Bevor sie sich versieht, kniet Finnan neben ihm, eine Hand auf seiner Brust, und versetzt ihm einen leichten Schlag – das war kein Handauflegen oder dergleichen, aber auch keine Herzmassage. Sie suchte nach Macs Puls und fand ihn nicht, das weiß sie noch ganz genau, sie konnte keinen finden, bis ihm Finnan mit einer schnellen Drehung seines Handgelenks leicht gegen die Brust schlug ... und da war er wieder.
Und jetzt, in diesem Augenblick, steht Finnan in seiner Einfahrt zwischen den beiden ausgebrannten Autos und wartet geduldig, mit seinem Stab in der Hand und einer Zigarette im Mundwinkel.
Finnan
Finnan sieht aus wie zwanzig, und das schon so lange, wie sie ihn kennt. Er behauptet, Ende dreißig zu sein, aber niemand weiß das mit Bestimmtheit. Er scheint immer dieselben Kleider zu tragen, dieselben T-Shirts mit Button-down-Kragen, dieselben sandsteinfarbenen Chinos und dieselben abgewetzten Wüstenwanderstiefel, alles
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