Vellum: Roman (German Edition)
nicht spielen will. Der Name des Engels hallt noch immer in ihren Gedanken nach, und ein Teil von ihr – etwas, das es schon immer gegeben hat, dem sie aber nie Beachtung geschenkt hat – ein Teil von ihr möchte ihn ausbrennen, will ihn einfach auslöschen.
»Sie wissen, was Finnan ist, nicht wahr?«
»Nein. Nein, ich bin nur ein alter Hippieeinsiedler, der zu viele Drogen gefressen hat; ich zwinge Finnan meinen Trip nicht auf und er mir seinen ebenso wenig. Falls er eines schönen Tages zu mir rüberkommt und mir erzählt, he, ich weiß, wo der Jungbrunnen ist, ich kann dich ins Paradies mitnehmen, Mann, dann komm ich vielleicht mit, doch vielleicht bleibe ich auch einfach hier und bemal meinen Hügel. Ich bin der Meinung, man muss sich allein durchschlagen; man kann nicht den Weg eines anderen gehen.«
»Also haben Sie ihn nie gefragt, woher er kommt oder so?«
Die Straße des Ewigen Staubes, denkt sie. Die Gefilde der Vergessenen Tage.
»Ich glaube nicht, dass er das jemals gefragt werden wollte«, sagt Mac.
»Fast jeder hat irgendein geheimes Zeichen«, hat Finnan ihr erklärt. »Bei manchen Leuten sitzt es so tief, dass sie alles vergessen haben außer diesem Mal. Es sitzt so tief, dass es in die Wirklichkeit eingeritzt ist, und du kannst es um sie herum flimmern sehen, es im Wind riechen. In ihren Herzen ist ein Loch, das direkt bis in die Hölle hinabreicht, direkt bis in den Himmel hinauf, und was sich auf der anderen Seite befindet, ist so hell, so dunkel, so unglaublich rein, dass sie sich ganz darin verlieren, bis ihr Körper nicht mehr ihnen gehört. Sondern den Dämonen und Engeln.«
Und sie weiß, dass er Recht hat. Sie versteht, warum er diesen ganzen Scheiß hinter sich lassen will. Aber sie weiß nicht, ob sie selbst auch dazu in der Lage ist.
Das Lied der unerforschten Lande
»Bist du dir ganz sicher?«, fragt Finnan.
Der Abend bricht herein und sie liegt in seinen Armen in seinem Bett in seinem Wohnwagen in seiner Welt. Der letzte Widerhall des wahren Namens des Engels schwindet allmählich, aber sie kann den Ruf noch immer spüren, den Cant, das Lied der Lande, im Rhythmus von Finnans Atemzügen, in seinem Herzschlag und in ihrem eigenen Atem und Blut. Sie berührt seinen Oberschenkel, und da regt sich etwas.
»Nichts, was ich jemals getan habe, fühlte sich so richtig an«, sagt sie. »Ich möchte, dass du es bist, der mich prägt, und ich möchte, dass dies ... das Sakrament ist.«
»Nicht ich präge dich«, sagt er und schüttelt den Kopf. »So läuft das nicht – verdammt, dafür kann ich ins Gefängnis kommen, das weißt du«, sagt er, etwas undeutlich, mit einem sanften Lächeln.
»Wir sind Unkin«, sagt sie und ist sich dessen auf einmal ganz sicher. Sie weiß, dass zwischen ihnen etwas ist und dass da schon immer etwas war, das über Freundschaft hinausgeht.
»Wir sind anders. Andere Leute, sie –«
Er legt ihr einen Finger auf die Lippen.
»Nicht ›sie‹, nicht ›wir‹, nur du und ich, okay?«
»Okay.«
Eine Weile schweigen sie, bewegen sich nicht. Dann schiebt Finnan seine Hand zu ihrem Arsch, fast geistesabwesend, als denke er an etwas anderes.
»Wie fühlt er sich für dich an?«, sagt sie. »Der Cant, meine ich.«
»Als jagten mir eine Million winzige Drähte Stromstöße durch den Körper, bis in die Knochen hinein. Manchmal ist es nur ein leises Summen, dann wiederum verglühe ich auf einem verdammten elektrischen Stuhl. Wie in einem beschissenen Magnetfeld und mein ganzer Körper besteht aus Eisenspänen, die sich ausrichten wie nach einem ... Störfeld.«
»Für mich ist es wie ein Lied, als rufe mich etwas ... von ich weiß nicht woher. Als halle alles um mich herum wider, tief in mir.«
»›Alles ist zersplittert und tanzt‹«, sagt er.
»Genau.«
»Ich beneide dich.«
Sie dreht sich auf den Rücken und blickt zum Fenster hinaus, nach Westen, wo die rotgoldene Sonne in ihrer vielfältigen Lichtflut fast künstlich wirkt, wie der gemalte Hintergrund eines Technicolor- oder Cinemascope-Films aus den 1950ern – alles wirkt gestellt.
»Was meinst du – wie lange habe ich noch«, sagt sie, »bevor sie mich holen?«
»Nicht mehr lange«, sagt er. »Anscheinend bereiten sie sich auf eine letzte Kraftprobe vor. In diesem Augenblick sind die Werber über die ganze Erde verstreut. Sie werden jeden Einzelgänger zur Strecke bringen, einen nach dem anderen, jeden freien Unkin. Sie haben es auf mich abgesehen, und
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