Vellum: Roman (German Edition)
Engeln und Dämonen zu fliehen, sondern um sie zu finden. Vielleicht wird sie nach Finnan suchen, vielleicht nach Tom – sie weiß es noch nicht. Sie weiß nur, dass sie nicht warten wird, bis es sie einholt.
Bevor sie aufbricht, ordnet sie die Buchstaben auf dem Kühlschrank so an, dass dort PHREEDOM steht. Dann nimmt sie die Halskette aus Hühnerknochen, den Santería-Talisman gegen schlechte Medizin vom Resopaltisch, wohin sie ihn letzte Nacht gelegt hat – letzte Nacht, als sie noch ein Mensch war. Jetzt hat sie die Sprache der Engel im Kopf, in ihrem Körper, in ihrem Blut, also braucht sie die Kette eigentlich nicht mehr.
Oder sie braucht die Kette jetzt vielleicht mehr denn je.
Errata
Die Tagebücher des Guy Reynard Carter – Tag unendlich
Die Trailer-Stadt, die in der Welt, in die ich gehöre, Slab City heißt, liegt rund vier Meilen von Niland entfernt an der 111, unten an der Ostküste des Salton See in der südwestlichen Ecke Kaliforniens, mitten in der Sonora-Wüste, die Mojave weit oben im Norden. Den Namen hat sie von dem Fundament der Gebäude eines alten Flottenstützpunkts, der nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt wurde – Betonplatten, die jetzt als Stellplätze für die Vehikel derjenigen dienen, die mit den Jahreszeiten reisen, nach Kanada im Sommer, nach Kalifornien im Winter. Schneevögel werden sie genannt.
Um nach New Mexico und dann zum Jornada del Muerto zu gelangen, muss man den ganzen Bundesstaat Arizona durchqueren.
Der Jornada del Muerto, der Pfad des Toten, der von Kern’s Gate in El Paso nordwärts verläuft, durch eine trockene Ebene aus Natron und Uran, Salz, Sand und Staub, bis nach Santa Fe und Los Alamos und Trinity hinauf, wo diese Weltenzerstörer Atome zertrümmert haben. Er gehört zum alten Camino Real, dem Königsweg, auf dem die Mexikaner nach Norden zogen, aus Teotihuacán ins Land der Träume. Peter Kern muss das gewusst haben, als er, auf der Rückreise vom Goldrausch in Alaska seine Wohnsiedlung vor der Stadt baute und mit einem alles überragenden schmiedeeisernen Tor versah, zwei mit silbernen Weltkugeln geschmückte Säulen, mit altindischen Sonnenzeichen und anderen okkulten Ornamenten, die sich über die Straße hinweg miteinander vereinigen und eher dem Eingang nach Chinatown gleichen als dem in eine Vorstadt. Eigentlich eher dem Eingang zur Hölle. Dieses Tor der tausend Pforten steht jedem weit offen und jeder kann es benutzen.
Um in meiner Welt von dort nach Slab City zu gelangen, muss man ... wie viele tausend Klicks laufen?
Ich breite die Karten, die ich von diesem Winkel der Welt zusammengetragen habe, auf dem Resopaltisch des alten Airstream-Trailers aus – New Mexico, Arizona, Kalifornien. In dieser Kartenwelt erstreckt sich Slab City über alle Grenzen.
Die handgeschriebenen Seiten des Tagesbuchs des Mädchens – wenn es denn ein Tagebuch ist – hängen an der Kühlschranktür, seitenweise Errata, die einander überdecken wie die Schuppen eines Fabelwesens, mit Magneten in Form von Plastikbuchstaben befestigt, wie die, von denen sie erzählt. Ich versuche zu verstehen, was in ihrem Kopf vorging, dass sie eine so sichere und solide Welt verfremdet und in die Sphäre des Erfundenen verlegt hat, wo sich ihre sonderbare Geschichte über Engel abspielt. Es ist möglich, dass sie – wie ich – nicht von hier stammt, dass dieses Tagebuch oder diese erfundene Geschichte mit dieser neu erdachten Welt ebenso wie ich dem langen Weg folgt.
Meine Reise, die Reise eines Toten – Guy Reynard Carter aus der Ewigkeit, wie ich mich jetzt spöttisch nenne – hat 527 Welten südlich von hier ihren Anfang genommen. Wie lange bin ich jetzt schon nach Norden unterwegs? Ich weiß es nicht. Vor ungefähr zweihundert Welten habe ich aufgehört, die Zeit in Tagen und Wochen, Monaten und Jahren, Jahrhunderten und Jahrtausenden zu messen. Selbst Welten sind unzulängliche Maßeinheiten für diese Entfernungen; weder zähle ich die weitläufigen Ebenen zermalmter Knochen, noch die langen Marmordämme, die über die flachen stillen Ozeane ohne Gezeiten führen – Gebiete, durch die ich jahrzehntelang in einer geraden Linie gegangen, wo ich jeden Morgen aufgewacht bin und dasselbe gesehen habe wie am Tag zuvor. Aber hin und wieder finde ich mich in Landstrichen wieder, die von ihren ehemaligen Bewohnern so genau erforscht wurden, dass man eine Bibliothek oder Buchhandlung betreten, alle möglichen Atlanten und Enzyklopädien
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