Vellum: Roman (German Edition)
früher oder später bist auch du an der Reihe. Sie suchen bereits nach ...«
Er verstummt, als habe er sich etwas anders überlegt.
»Scheißengel«, sagt er. »Himmel Herrgott, schütze uns vor diesen Scheißengeln.«
»Vielleicht ...«
Sie zögert.
»Vielleicht müssen wir in diesen Krieg ziehen.«
»Ein scheißruhmreicher Kampf für das Königreich, Phreedom? Du und ich retten die Welt?«
»Vielleicht.«
Er schüttelt den Kopf.
»Versprich mir, dass du weglaufen wirst, wenn sie kommen, um dich zu holen – einfach nur weglaufen. Spiel nicht die Heldin, Phreedom. Lass sie nicht die Regeln bestimmen.«
Doch ihr wird klar, dass sie das nicht versprechen kann.
»Warum hast du mir nichts über das Vellum erzählt?«, fragt sie.
»Weil es ein verdammter Haufen Scheiße ist«, sagt er. »Ein beschissener Traum. Dies ist die Wirklichkeit, hier, jetzt, und alles andere ist nur ... Schall und Rauch. Der Cant ist wirklich, aber das Vellum ist nur ein ... Mythos.«
Sie merkt ihm an, dass er lügt. Zum Teufel – sie spürt, wie diese andere Wirklichkeit auf ihr lastet, zu ihr durchbrechen möchte. Schall und Rauch. Kein Rauch ohne Feuer, und jenseits des Spiegels liegt eine andere Welt.
»Ich bin bereit«, sagt sie. »Ich will meinen Namen wissen.«
Er rollt sich herum, sodass er jetzt auf ihr liegt, den Kopf auf ihrer Schulter, küsst ihren Hals und streichelt ihre Klitoris. Sie kann das Bier riechen, seinen bitteren Atem. Er hat angefangen zu trinken, kaum war der Engel gegangen, und sie hätte ihn daran hindern können. Sie hätte ihn daran hindern können, aber sie hat es nicht. Nüchtern hätte er das hier vielleicht nicht getan.
»Verdammt«, sagt sie.
Und seine andere Hand drückt sich in sie hinein, elektrisch geladene Finger schließen sich um ihr Herz, lesen sie, überschreiben sie, verschmelzen Heiliges und Profanes in Gnade und Unzüchtigkeit, und er schmiegt sich an sie und flüstert es ihr ins Ohr.
Eine halbleere Schachtel Zigaretten
Sie erwacht in seinem Bett in seinem Wohnwagen in Slab City in einer neuen Welt, in ihrer gewohnten Welt, und er ist fort. Draußen ist Mac schon auf und arbeitet an seinem Jesus-Hügel, aber in Finnans Schrottburg ist sie allein. Selbst in der Luft ist keine Spur mehr von seinem sepiafarbenen Lebenslicht, von seinem metallischen Seelenduft. Sie sieht sich im Airstream nach etwas um, was ihr verraten könnte, warum oder wohin er gegangen ist – ein paar Zeilen, irgendein Abschiedsbrief. Doch da ist nur eine halbleere Schachtel Zigaretten mit seinem Zippo darauf. Und eine Menge leere Bierflaschen.
Morgen soll sie mit ihrer Familie nach Norden aufbrechen, weg von hier, bevor die Sommersonne zu heiß wird, in kühlere, weniger raue Gefilde. Sie weiß nicht, ob sie mit ihnen gehen möchte, aber sie will auch nicht warten, bis Finnan zurückkommt; sie vermutet, dass er niemals zurückkommen wird.
Nein, sie weiß einfach, dass sie nicht mehr hierher gehört. Das ist das Sonderbare am Nomadendasein, denkt sie – wo immer sie auch war, fühlte sie sich zu Hause. Das mochte vielleicht seltsam scheinen, aber so war es. In Slab City oder droben im Norden, unterwegs oder auf einem Platz – nie hatte sie das Gefühl, sie sei irgendwo, wohin sie nicht gehörte. Jetzt war das anders.
Sie lässt den Blick über den Schrottplatz schweifen und stellt fest, dass eines der Motorräder fehlt. Von einem anderen hat jemand die schwere grüne Plane zurückgeworfen, der Schlüssel steckt in der Zündung – eine Einladung, ein Geschenk. Versprich mir, dass du weglaufen wirst, hat er gesagt, aber das kann sie nicht. Dort draußen ist etwas, das sich auf einen Krieg vorbereitet, der diese Erde zu Staub und Asche verbrennen wird. Sie will nicht die Heldin spielen – aber das heißt nicht, dass sie nicht kämpfen wird. Scheiß drauf, denkt sie. Dieser Scheißkerl Finnan hat auch nicht auf alles eine Antwort. Er hat nur eine Scheißangst. Er hat nur –
Und sie muss an die von Knochen bedeckte Ebene denken, die sie gesehen, an den Stiefel, der die Vogelknochen zertreten hat, und sie weiß – ganz gleich, was dieses Vellum eigentlich ist, ganz gleich, wovon der in schwarzes Leder gekleidete Engel mit seinem Buch eigentlich geschwafelt hat, über die Straße des Ewigen Staubs, die Gefilde der Vergessenen Tage – sie weiß, dass Finnan aus gutem Grund Angst hat. Aber so will sie nicht leben. Wenn sie das Motorrad nimmt, dann nicht, um vor den
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