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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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hinab der terrassenförmig angelegte Hang tatsächlich reicht – überall klammern sich Felder an ihm fest, Straßen schlängeln sich entlang der steilen Höhenlinien abwärts, hier und dort von Stadtschichten unterbrochen. Nur an klaren Tagen kann man nordwärts über die tiefe Kluft hinwegblicken, auf der Suche nach der gegenüberliegenden Seite des gewaltigen Tals, nach dem Schatten eines der Berggipfel, die in weiter Ferne in Dunst gehüllt sein mögen. Lässt man den Blick langsam abwärts schweifen, immer weiter und weiter abwärts, begreift man bald, dass man sie niemals finden wird.
     
    In diesen Falten, die das Vellum wirft, sind die Landkarten sehr sonderbar, zeigen sie doch die Welt nicht von oben, sondern aus einem Winkel von fünfundvierzig Grad, wie von Süden und aus großer Höhe betrachtet, die Perspektive einer mittwinterlichen Mittagssonne. Mir leuchtet das wohl ein, entspricht es doch der Sicht von Menschen, die auf einer Diagonalen leben, auf der Treppe der Götter. Wenn man die Karten betrachtet, wird einem auch bewusst, wie eindimensional ihre Ausrichtung ist. Straßen verlaufen quer darüber hinweg, von links nach rechts, von rechts nach links, nur hin und wieder bergauf oder in Serpentinen, breit und flach, wo sie versuchen, von einem Grat zum nächsten anzusteigen. Hier und dort ist ein steilerer Pfad schwarz markiert; da schleppen sich, wie ich herausgefunden habe, riesige Seilbahnkabinen an quietschenden Rollen den Berghang hinauf und hinunter.
     
     
    Die schiere schiefe Schräge ihrer Lage
     
    Im Großen und Ganzen ist es eine pastorale Kultur, ein landwirtschaftliches Gefüge von terrassierten Feldern mit nur wenig Industrie, mit Steinbrüchen und Bergbau, ein paar chemischen Werken und verschiedenen andere Technologien. Den Einfallsreichtum der Menschen, die hier einst gelebt haben, sollte man nicht unterschätzen, aber es sieht so aus, als hätte allein der Aufwand, der nötig ist, um sich bergauf fortzubewegen, sie in vielerlei Hinsicht – Eroberungen oder Handel, Kommunikation in jeglicher Form – beeinträchtigt und zu einer Lebensweise auf einer Ebene gezwungen. In den ländlichen Gegenden sind die Dörfer wie Kleider auf einer Wäscheleine aneinandergereiht, wie Ablagerungsschichten nach einem Erdrutsch – lange dünne Adern zivilisierten Lampenscheins, die das Grün und Grau von Erde und Fels marmorieren. Die Wege, die von einem Dorf zum nächsten führen, verlaufen über gefährliche Felsvorsprünge oder breite Gesimse, aber sie verbinden fast nur Ortschaften auf derselben Ebene miteinander; rote Dächer, die über dem Baldachin der Bäume sichtbar sind, oder Lichter in den Felsspalten weit droben mögen nur eine halbe Meile entfernt sein, aber es könnte ebenso gut eine halbe Welt sein. Wo also auf einer flachen Welt eine kleine Stadt inmitten von einem Dutzend Dörfern läge, die ihren Markt mit allem nur Denkbaren versorgen, hat es jede Stadt hier am Hang nur mit den nächsten Nachbarn auf derselben Ebene im Osten und Westen zu tun.
     
    Wie gesagt – ihren Einfallsreichtum sollte man nicht unterschätzen. Die Städte hier sind, soweit ich sie besucht habe, atemberaubend, wie der Einbildungskraft eines Brueghel oder Grimmer entsprungen, nicht hinsichtlich ihrer mittelalterlichen oder Renaissancearchitektur, nicht hinsichtlich ihrer malerischen Erhabenheit, auch wenn diese ihnen durchaus eigen ist, denn es gibt Schlösser und Kuppeln, Brücken und Pfeiler – sondern in der schieren schiefen Schräge ihrer Lage. Wie auf den Stadtplänen alter Städte, auf denen bedeutsame Gebäude in Seitenansicht gezeichnet sind, damit der umherwandernde Fremde die berühmten Türme oder historischen Paläste sogleich erkennt und sich zu ihnen durchfindet, stellen die Städte am Großen Graben ihre Gebäude weithin sichtbar zur Schau; auf Gesims über Gesims über Gesims erheben sie sich, stürzen den Hang hinab. Bergdörfer in den Anden thronten nie in so luftigen Höhen wie die Städte am Großen Graben, die gleich Wasserfällen abwärts strömen, gleich Waldbränden himmelwärts greifen. Diese Leute als rückständig zu bezeichnen, wäre töricht.
     
    Dabei habe ich nur einen winzigen Bruchteil der Kultur am Großen Graben kennen gelernt; ich bilde mir nicht einen Augenblick lang ein, ich hätte ihre Welt gesehen, nur weil ich ihre sanft geneigte Toskana oder ihr aufsteigendes, abfallendes Rom besucht habe. Die Geographie der Welt mag die Wahrnehmung dieser Menschen

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