Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan

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mit der scharfen Klarheit des Blitzes und der hallenden Gewalt des Donners ausgesprochen werden, ist — von seinem Wesen her — ein freier Geist, ein Wanderer auf Irrwegen im Vellum, von wehmütigen Erinnerungen an erhabenere Tage erfüllt. Sin dagegen ist hier zu Hause. Könige und Tyrannen kommen und gehen: Kein Wunder, dass Enlil in einer Welt in Vergessenheit geriet, in der das Gesetz durch Luftangriffe seinen Ausdruck findet, nicht von Donnervögeln geflogen, sondern von Tarnbombern so schwarz wie Krähen, so majestätisch wie Adler. Sin war schon immer ein Gott der Stille und der Schatten, des Nichtraums. Falls er jemals ein Mensch war, was er als Unkin gewesen sein muss, dann hat sich seine Geschichte längst in der Traumwelt von Illusion und Elision aufgelöst.
    Lady Cypher, der alle Erinnerungen Phreedoms eingeprägt sind, denkt daran zurück, wie Tom von den Feldern der Illusion erzählte, eine endlose, ewige Weite, die sich über die Wirklichkeit hinaus erstreckt, weiter entfernt als der Horizont, den man nie erreicht, ganz gleich wie weit man läuft, und näher als der Schatten unter den eigenen Sohlen.

    Sie weiß noch, wie sie eines Nachts Yagé gestohlen und sich damit so zugedröhnt hat – das war, nachdem ihr Bruder sie verlassen hatte –, dass Finnan sie zu Boden werfen musste, sonst hätte sie der Blitz getroffen, den sie herabgerufen hatte. Ein Gewitter tobte am Himmel und in ihrem Herzen.
    »Was bin ich?«, fragte sie ihn da, packte sein schmuddeliges T-Shirt, stieß ihn von sich und zog ihn wieder zu sich heran. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, und sang mit einer Stimme gegen den Sturm an, von der ihr Trommelfell blutete, mit Worten, die sie nicht im Kopf behalten konnte. Und erst als das Gewitter aufgehört hatte, wandte er sich ihr zu und schaute sie an, als sei das die bei weitem dämlichste Frage, die er je gehört hatte.
    Der Blitz war Zufall gewesen, natürlich, aber danach wurde er ein wenig gesprächiger, erzählte ihr vom Cant, wenn auch widerwillig.
    »Ich möchte alles wissen«, hatte sie gesagt.
    »Du weißt, was mit Menschen geschieht, die allzu neugierig sind«, hatte Finnan erwidert.
    »Ja, klar, aber die meisten bleiben auf der Strecke, weil sie zu wenig wissen.«
    Phreedom versucht, die Erinnerung festzuhalten, aber sie ist so flüssig wie die Sprache, die sie in jener Nacht hörte.

    An der flüchtigen fragmentarischen Bildersymbolik, die sie umgibt, kann Lady Cypher nicht erkennen, ob sich dahinter wirklich etwas verbirgt. Der Gott des Mondes ist nur schwer fassbar. Aus den Augenwinkeln glaubt sie einen Blick auf ein vorbeischnellendes Bewusstsein zu erhaschen, aber es ist so rasch wieder verschwunden, wie es aufgetaucht ist. Die einzige Botschaft, die er ihr überbringt, ist das Echo, das sie hört.
    »Meine Tochter hat es nach dem großen Himmel verlangt«, spricht Enlils Stimme. »Inanna hat es nach der großen Erde verlangt, und wer die Me aus Kur mit sich fortnimmt, kann nicht zurückkehren. Aus der finsteren Stadt gibt es keine Heimkehr.«
    Er wird ihr nicht helfen.


    Götter aus uralten Zeiten

    »Vor langer, langer Zeit«, hatte Finnan ihr erzählt, »gab es einfach überall Götter. Ich meine, wenn du wissen willst, wie viele Götter es gab, musst du dir nur Irland anschauen; eine winzige Insel, und noch immer ist sie randvoll mit Geistern! Aber die Hälfte dieser verdammten Geister waren heidnische Götter aus uralten Zeiten. Und die ganzen Feen, jede einzelne von ihnen! Was sind die anderes als Götter, die – kaum tauchte die Christenheit auf und setzte sie vor die Tür – ihre himmlische Herrlichkeit verloren haben und ins Zwielicht verschwunden sind mit nichts als ihrer gleißenden Schönheit? Vor diese Wahl waren sie gestellt, verstehst du, als die Engel kamen. Lass dich anwerben oder verschwinde. Also lassen sich manche anwerben, werden zur Heiligen Bridget oder dergleichen, und manche suchen in den Bergen Zuflucht. Himmel, kannst du dir das vorstellen? Gerade noch bist du Herrscher über all die Túatha de Danaan – Cuchullain der Rothaarige oder Lud mit der Silbernen Hand, Bran der Dreifach Gesegnete oder Dagda mit den Goldenen Kesseln, mit Streitwagen und riesigen Jagdhunden –, und plötzlich nur noch dieser närrische kleine Herr der Sidhe, der sich in einem Bau unter der Erde versteckt. Und am Ende gehörst du zu dem verfluchten Feenpack, ganz der viktorianischen Phantasie entsprungen. Scheißgnome und Töpfe voller