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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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sie werden ihn erschießen.
    »Ich bin nur etwas spazieren gegangen, Seamus. Draußen war es so schön, die Sonne schien und das Gras wiegte sich im Wind, ganz sanft und weich, wie ... und nirgendwo Granaten, Seamus. Nirgendwo Granaten, nicht eine.«
    »Verdammte Scheiße, Tommy. Sei doch vernünftig. Was redest du da? Es hat doch Granaten und Kugeln geregnet wie verrückt.«
    »Es hat nicht geregnet, nicht draußen auf den Feldern. Aber ein Fluss war da, verstehst du, und ich konnte nicht hinüber, also musste ich zurückkommen. Um ... um etwas zu holen ... damit ich hinüber kann. Du könntest mit mir kommen, Seamus. Du kannst mir die Tür aufmachen und mich rauslassen und du kannst mit mir kommen und wir können über den Fluss hinüber und wir können ...«
    Seamus blickt zur Tür des verdammten Unterstandes hinaus, in dem er mit seinem verdammten Gewehr steht und nur darauf wartet, verdammte Scheiße, bis die Offiziere erfahren, dass der Junge noch immer völlig plemplem ist. Klar doch, Offiziere leiden an Kriegsneurosen, während das restliche Gesocks einfach nur feige ist und erschossen wird.
    »Ich weiß nicht, Tommy«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob ich dich dorthin begleiten kann, wohin du gehst, mein Freund.«
    Schamasch hatte Erbarmen angesichts der Tränen Dumuzis. Er verwandelte seine Hände in Gazellenhände. Er verwandelte seine Füße in Gazellenfüße. Dumuzi entkam seinen Dämonen, entkam nach Kubiresch.
    Dumuzi, der Dumu-zi, das leuchtende Kind, entkam. Tammuz entkam. Aus dem alten sumerischen Text, ›Dumuzis Traum‹, springt er von Mythos zu Mythos, nur um unter bitterlichen Tränen wieder gefangen zu werden, gefangen und gefesselt, um schließlich unter der aufgehenden Sonne zu erwachen, die — immer wieder — versucht, ihn zu retten. Er erwacht aus seinem Traum, nackt und verwundet, in dieser oder jener Fassung ein Gefangener der Miliz, ein Deserteur oder ein Wehrpflichtiger auf der Flucht, der zurückgebracht wird, um bestraft zu werden. Er reißt sich los und flieht, vor dem Krieg, vor dem Mythos in die Wirklichkeit oder vor der Wirklichkeit in den Mythos.
    Dumuzis Gefangennahme
     
    »Lasst uns nach Kubiresch gehen«, sprachen die Ugallu. Und sie folgten der Straße des Ewigen Staubes, bis sie nach Kubiresch gelangten. Aber Dumuzi entkam seinen Dämonen, er floh über die Felder der Täuschung zum Haus der alten Belili. Er schlich sich in das Haus der alten Belili und sprach mit ihr.
    »Alte Frau. Ich bin kein einfacher Sterblicher. Ich bin der Gemahl der Göttin Inanna. Willst du Wasser ausgießen und mir zu trinken geben? Willst du Mehl hinschütten und mir zu essen geben?«
     
    Auf der Suche nach etwas zu essen durchwühlt er die Borde und Schränke des Bauernhauses, denn er ist halb verhungert und durchnässt und todmüde vom Laufen, ihm ist kalt und er ist so kaputt, dass er nicht mehr recht weiß, vor was er überhaupt davonläuft, seine Kleider sind so schmutzig, dass er sie, als er sie auszieht und zum Trocknen vor den Kamin legt, betrachtet und in ihnen nicht mehr den Uniformrock oder den Afghanenmantel oder die Lumpen eines flüchtigen Sklaven oder irgendetwas anderes erkennt als einfach nur Kleidungsstücke.
    Er stellt die verstaubte Schwarzweißfotografie der alten Frau auf den Kaminsims zurück, aber dann explodiert erneut eine Granate, die Fotografie fällt herunter und zerbricht, und er lässt sich instinktiv fallen. Er kann das Schlagen ihrer Baseballschläger und das Schlagen ihrer Flügel hören, während er dort kauert und mit den Fingern Bohnen aus einem Blechnapf isst.
    »Lasst uns zur alten Belili gehen«, sprachen die Ugallu. Und sie durchquerten die Felder der Täuschung, bis sie zum Haus der alten Belili gelangten. Nachdem die alte Frau Dumuzi Wasser ausgegossen und Mehl hingeschüttet hatte, hatte sie das Haus verlassen. Die Ugallu sahen sie gehen und traten ein. Doch Dumuzi floh vor seinen Dämonen und er floh über die Felder der Täuschung zur Schafhürde seiner Schwester Geschtinanna.
    Geschtinanna fand Dumuzi in der Schafhürde und schluchzte. Sie hob ihren Mund himmelwärts. Sie senkte ihren Mund erdwärts. Ihr Kummer bedeckte die Welt bis zum Horizont, wie ein schmutziger Lumpen. Sie zerkratzte sich die Augen, den Mund, die Schenkel.
    Und die Tür fliegt mit einem Knall auf, und er springt zum Fenster hinaus, das von monatelangem Beschuss zersplittert ist, zurück in das aufgewühlte Grauen des französischen Niemandslandes, er rennt im Gewitter

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