Vellum: Roman (German Edition)
durch den Schlamm und den Gebirgsregen in North Carolina und fällt über einen Zaun in den Schnee von Wyoming, versucht, sich wieder aufzurappeln, aber sie springen bereits über den Zaun der Schafhürde, ihm dicht auf den Fersen, unaufhaltsam, die Baseballschläger und Gewehrkolben und frühzeitlichen Keulen hoch erhoben, und er hält seine Schwester umklammert und sie schluchzt um ihn.
Und die Engel kommen auf Flügeln vom Himmel herab, Reichsadler, Kriegsfalken.
Ein Krieg der Ideale
Asheville, 13. Juli 2017.
Thomas beobachtet, wie die Tür der Bar ins Schloss fällt und wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Burschenschafter zu, der an einem Tisch auf der anderen Seite des Gastraums sitzt. Der blonde Junge ist still geworden, als arbeite sich irgendetwas durch sein Unterbewusstsein, als schleiche etwas in seinen Verstand, über das er um alles auf der Welt nicht nachdenken möchte. Herrgott, denkt Thomas, es ist 2017 – vielleicht ist das nicht die fortschrittlichste Gegend hier, aber jetzt reiß dich mal zusammen. Es gibt wichtigere Dinge auf der Welt als die Frage, mit wem oder was du vögeln willst. Doch der arme süße engeläugige Löwe trinkt einfach nur sein Bier und wirft hin und wieder einen Blick zu Thomas hinüber, und wenn er den Blick abwendet, ist er schamrot, er steckt in der Geschichte fest, die er sich selbst darüber erzählt, wer er ist, wer er sein sollte.
Trotzdem, da ist etwas an ihm, eine gewisse verträumte Distanziertheit, die zu Hoffnungen berechtigt. Er könnte ein heruntergekommener Punk in Lederjeans und aufgeschlitztem T-Shirt sein oder ein englischer Adliger in Frack und Strohhut, und er wäre immer noch der Richtige. Er strahlt diese weiche Anmut aus, als wäre es einerlei, wo er sich befindet, denn so ganz da ist er sowieso nicht.
Thomas steht kurz davor aufzugeben, als fünf der Burschenschafter aufstehen, die Jacken von den Stuhlrücken ziehen, sie sich über die Schulter werfen oder über den Arm legen. Sie schwanken ein wenig, betrunken und laut, als sie über die Party reden, die irgendwann später am Abend stattfinden soll, sie klopfen den anderen beiden auf den Rücken und steuern die Tür an. Aus aufgeschnappten Satzfetzen und gemurmelter Bewunderung schließt Thomas, dass ein paar von ihnen das College vorzeitig verlassen und sich bei den Streitkräften verpflichtet haben. Schließlich droht Amerika Gefahr, und die Freiheit und Demokratie von Marionettenstaaten im ganzen Mittleren Osten und in Afrika steht auf dem Spiel. Die schwankende Ordnung der Welt muss aufrechterhalten werden.
Auf einem kleinen Fernseher in einer Ecke hinter der Bar zeigt CNN einmal mehr eine Sendung des berüchtigten Amar al Ahmadi Malik, eine weitere auf Video gebannte Schmährede, in der er die Verantwortung für diese oder jene Gräueltat übernimmt, alles von einer darunter durchlaufenden Textzeile übersetzt. Seit dem erfolgreichen Attentat auf Alhazred entpuppt er sich immer mehr als Erzschurke, und obwohl der Ton leise gestellt ist, kann Thomas den Widerhall des Cant unterhalb seines wütenden Redeflusses hören. Malik in Syrien, al Mashaikh in Nordirak, Khalifa im Iran – Thomas weiß nicht, ob sie wirklich alle über das sogenannte ›Netzwerk des Terrors‹ miteinander in Verbindung stehen, aber eines weiß er. Unkin sind sie alle, ausnahmslos.
In letzter Zeit hat Thomas die Nachrichten etwas genauer verfolgt, und er fragt sich, ob die neuen Rekruten – mit strahlenden Augen und bereits verbittertem Blick – die geringste Ahnung haben, auf was sie sich da einlassen. Denn aus Jerusalem und Damaskus, Bagdad und Teheran dringen Geschichten herüber, unheimliche Geschichten, und für Thomas sprechen all diese Geschichten eine deutliche Sprache. Ob es sich um einen Militärstützpunkt in Jericho handelte, der nachts von singenden Kindern umstellt und am nächsten Tag evakuiert wurde, weil alle GIs darin verrückt geworden waren, oder um ›Selbstmordattentäter‹, die nackt und verwirrt in ein Café stolperten, aus Schriftzeichen bluteten, die ihnen ins Fleisch geritzt worden waren und in einer Blüte weißen Lichts explodierten, obwohl die Überlebenden Stein und Bein schworen, dass sie keine Sprengsätze umgeschnallt hatten, auf keinen Fall, Sir, nichts außer diesen sonderbaren Schriftzeichen. Was auch immer es für Geschichten waren: Für Thomas ist klar, dass die Unkin nun Ernst machen. Er ist sich noch immer nicht sicher, ob Präsident Freemont und die
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