Vellum: Roman (German Edition)
handgeschriebenen Notizen in Plastikhüllen, die von den Fingern des warmen Augustwindes hin und her geblättert wurden — Finger, die weit emsiger waren als unsere. Ich zog einen meiner schamlos müßigen Finger zwischen seinen Zähnen hervor und schnippte gegen einen sensiblen Punkt an seinem Ohrläppchen.
»Autsch. Scheißkerl.«
»Dann beiß mich halt nicht, du Hungerleider.«
Er neigte den Kopf auf meiner Brust, sodass er mich mit einem scheinheiligen Blick aus seinen unschuldigen Rehaugen bedenken konnte, und mit einem Grinsen zog er — von oben betrachtet — die Lippen aufwärts, die Mundwinkel voller Schalk, als er mit den schwarzen Wimpern klimperte, mir dabei über die Haut strich und mit den Zähnen an meinen Brustwarzen knabberte. Ich brüllte so laut auf, dass ein Köter, der in der Nähe an den Resten eines studentischen Mittagsmahls schnüffelte, den Kopf hob und mich mit neugierigem Blick und gespitzten Ohren ansah.
Kraft und Anmut
»Verglichen mit dem anmutigen — oder dolichocephalen — Schädel eines Elfen oder sogar mit dem robusten — will sagen brachycephalen — Schädel der Zwergenvölker kennzeichnen die viehischen und affenartigen Gesichtszüge den dunkelhäutigen Ockroiden eindeutig als andersartig, als unter zivilisierten Rassen stehend. Daraus müssen wir schließen, dass der Ockroide auf halbem Wege zwischen den modernen Menschenrassen und ihren troglodytischen Ahnen steht, wie beispielsweise der Astralopithecus — oder Pithecantropus Titanus, der sogenannte Bekingmensch.«
Der alte, liebenswerte, schwülstige Samuel Hobbsbaum mit seinem gewaltigen weißen Bart und der äußerst kompakten Figur schloss das Buch und legte es auf das Pult, einen Finger auf dem gelben Post it-Zettel, mit dem er die entsprechende Seite markiert hatte.
»Wenn wir die Worte der Archäologen des neunzehnten Jahrhunderts in modernem Kontext lesen«, sagte er, »können wir nicht anders, wir sind von dem nicht nur impliziten, sondern unverhohlen expliziten Rassismus zutiefst schockiert. Für uns ist Sklaverei eine abscheuliche Vorstellung, und doch ...«
Erneut schlug er das Buch auf.
»Aus eben diesem Grunde muss der ockerfarbene Afritaner von seinen elysischen Vettern aufgezogen werden, wie man ein Kind aufzieht, denn sicherlich ist der Afritaner noch ein Kind im Vergleiche mit den ihm überlegenen Elfen, seine Wildheit nur die Impulsivität der Jugend. Ihm fehlt jede Vernunft und Selbstbeherrschung, sein Aberglaube ist nur die ungezügelte Laune einer kindischen Phantasie. Ohne Wissenschaft und Mathematik, ohne Historie und Philosophie — gar ohne eine Vorstellung von Fortschritt, die über den natürlichen Kreislauf der Natur hinausgeht —, ist er wie alle Kinder im ewigen Jetzt gefangen und folgt zwangsläufig seinen unmittelbarsten Ängsten und Wünschen, dergestalt völlig unwissend in Fragen der Ethik wie in allen anderen. Er ist der Sklave seiner Leidenschaften und wird es auch bleiben, wenn nicht der zivilisierte Mensch ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm mit fester Hand, als sein Herr und Meister, seinen Platz in der Gesellschaft zuweist. Und es ist die dringliche Aufgabe des aufgeklärten Elysianers, den Leidenschaften der Wilden diese vernunftbestimmte Disziplin entgegenzusetzen.«
»Diese Vorlesungsreihe hat die Leidenschaft zum Thema«, sagte Hobbsbaum nach einer Pause. »Leidenschaft und Vernunft und die Wechselwirkungen dieser beiden fundamentalen Wesenszüge des menschlichen Daseins, wie sie von Künstlern, Philosophen, Idealisten und Ideologen im Elysia des neunzehnten Jahrhunderts wahrgenommen wurden. Leidenschaft und Vernunft. Romantik und Rationalismus. Wir werden uns die Frage stellen: An welchem Punkt des Zusammenpralls und des Zusammenspiels dieser beiden Ideenwelten wird aus der Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts die Politik des zwanzigsten Jahrhunderts? Wann wird Romantik zu Faschismus? Wann wird Rationalismus zu Kommunismus? Und können wir überhaupt mit solch verallgemeinernden Begriffen arbeiten?«
Körperwelten
Wir — das heißt Puck und ich — haben uns als Studenten der Politikwissenschaft im ersten Seminar kennengelernt, am ersten Tag unseres ersten Semesters an der North Manitu State University, und im Verlauf der ersten Wochen studierten wir uns auch gegenseitig, anfangs noch unsicher angesichts der quälenden Begierde unserer Zungen — jenes prickelnden Begehrens, bei dem man sich mit der Zunge über die
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