Vellum: Roman (German Edition)
Lippen fährt und über die oberen Zahnreihen; unsicher, ob die unruhigen Finger und die verstohlenen Blicke mehr sind als nur Wunschdenken unseres weltentrückten Verlangens. Wir musterten einander — auf der Suche nach einer Gewissheit, der wir selbst noch nicht eindeutiger Ausdruck verleihen konnten als mit demselben Kopfnicken oder Lächeln, das wir auch anderen Mitstudenten oder vertrauten Fremden schenkten.
In der zweiten Woche fanden wir uns schließlich im selben Tutorat wieder, in eine Debatte verstrickt, die ebenso heftig wie närrisch war und bei der wir Hohn über die offenkundig absurden Ideen des anderen ausgossen. Und so blickten wir uns in die Augen, den Mund ungläubig geöffnet, schüttelten den Kopf und beschimpften einander, bis es so aussah, als würden wir uns gleich prügeln, und während unser Tutor vergeblich versuchte, uns wieder auf das eigentliche Thema zu lenken, war das Ausmaß des Spotts, den wir hin und her schleuderten, nicht mehr einzudämmen, die ganze Bosheit der Diskussion mehr Abscheu als Auseinandersetzung. Während ich in sein wütendes Gesicht blickte, dachte ich unentwegt daran, wie gerne ich mit ihm vögeln wollte und dass ich in seinem wilden Blick lesen konnte, dass er dasselbe dachte.
Und später, nachdem wir — noch immer streitend, noch immer flirtend — den Seminarraum verlassen, nachdem wir Stunde um Stunde in der Unicafeteria gesessen und Kaffee getrunken hatten, ich schwarz und bitter und er mit Milchschaum und zuckersüß (während ich weiterredete, sah ich, wie er ein, zwei, drei, vier Päckchen Zucker hineinkippte), nachdem wir unentwegt über Bedeutungslosigkeiten gesprochen hatten, als seien sie die wichtigsten Sachen der Welt, und nachdem wir gemeinsam zu seinem Zimmer hinübergeschlendert waren, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein, ergriffen unsere Körper einfach voneinander Besitz und vertieften sich in das Studium von Form und Beweglichkeit des anderen.
Wir studierten die Vielfalt unserer komplexen Gelenke, die Nachgiebigkeit eines Kusses, die Neigung eines Nackens, die letzten Zentimeter oberhalb des ersten Rückenwirbels, wo der Haarflaum bloßer Haut weicht, die Neigung des Rückgrats in Kontrapostpose, die eine Hüfte leicht angehoben, sodass der andere den Arm bequem darunter hindurchschieben kann, als sei all das für nichts anderes auf der Welt geschaffen. Ich studierte die Spitzen seiner Hörner und Ohren. Ich studierte das schelmische Smaragdgrün seiner Augen, die orientalischen Jadefarbtöne seiner Haut. Er zog die Augenbraue hoch, als er bemerkte, wie biegsam meine Flügel waren, und dann hörten wir auf mit dem Studieren.
Die Bittsteller
Diese Holzschnittkarikatur eines Gnoms aus dem Mittelalter entsprach ganz der Vorstellung, die man sich von einem Kindermörder und Pestverbreiter machte. Aufgrund der rudimentären Flügel unter seinem Kittel schien es, als hätte er einen Buckel. Er hatte einen Sack voller toter Kleinkinder über die Schulter geworfen, einen Geldbeutel in der Hand. Diese Vorstellung, Gnome seien ruchlos und verwachsen, hatte genügt, um Pogrome und Verfolgungen auszulösen, und die Nazis wussten sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert geschickt auszunutzen. Dieses Bild bot den Kreuzfahrern einen Vorwand, auf ihrem Weg ins Heilige Land ihre Fähigkeiten zu üben, indem sie Städte von ihren zwergwüchsigen Bewohnern ›säuberten‹. Dieses Bild zeigte den Gnom als Wucherer, als Kinderschänder und natürlich, zuallererst, als Mörder Christi.
Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass Adonais selbst ein Gnom gewesen war. Mittelalterliche Fresken und Altarbilder, Ikonen und Kruzifixe hatten den Sohn Jupiters als hellhäutig und schlank dargestellt, als vollkommenen anglosatyrischen Messias, die Flügel auf dem Kreuz weit ausgebreitet, die langen Hörner im Leiden gesenkt. Von seinen frühsten Anfängen und seinen zaghaften Annäherungen an die Edelblütigen über die endgültige Annahme des Glaubens durch Kaiser Instantin und die Erweiterung der Kirche im Zeitalter des Heiligen Reimischen Reiches hatte sich das Christentum nach und nach von seinen gnomischen Ursprüngen entfernt und die Jünger auf Gemälden weiß anstatt kobaltblau dargestellt. Die Schuld an den Ausschreitungen wurde immer mehr den Gnomen zugeschoben und nicht mehr den Reimanern. Die toten Kinder und der Geldbeutel sollten daran erinnern, dass ein böser Gnomenkönig den Mord an den unschuldigen Kindern befohlen
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