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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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hatte und dass der Gnom, der Christus verriet, dreißig Silberlinge erhalten hatte.
     
    Schneider oder Pfandleiher, Goldschmiede oder Geldverleiher — den Gnomen standen in Elysia nur wenige Berufe offen, und viele davon waren Handwerke oder Gewerbe, die zusammengekniffener Augen oder flinker Finger bedurften; bei denen man den Rücken über den komplizierten Einzelheiten eines Uhrwerks oder eines Rechenbuchs krümmen, auf große Geschicklichkeit und gründliche Planung achten musste, als könnten die Adligen die Flüchtlinge ausschließlich als Bittsteller dulden, die sich den symbolischen Rollen des Ränkeschmiedens und der Habsucht unterwarfen.
     
    In dem abgedunkelten Vorlesungssaal war ein Klicken und Surren zu hören, als das an die Wand geworfene Dia zur Seite glitt und ihm eine Aufnahme aus neuerer Zeit folgte, die Schwarzweißfotografie einer gnomischen Ladenzeile im Berlin der 1930er Jahre, das Fenster zersplittert, die Wörter ›Gnome raus‹ auf die Tür geschmiert. Ich hörte, wie Puck neben mir leise ein verdammte ... murmelte, ohne seinen Fluch zu beenden. Im ganzen Raum nahm die fast vollkommene Stille — nur hier und dort rutschte jemand hin und her oder verschränkte die Arme — geradezu spürbar Gestalt an. Wir alle zogen uns hinter eine Fassade beklommener Entrüstung zurück.
     
     
    Verstörung, Aufmerksamkeit und Verlangen
     
    Er blickte sich über die Schulter um und ich nahm ihm die Zigarette mit zwei Fingern, die wie ein Friedenszeichen der Sechziger erhoben waren, aus dem Mund, drückte den Glimmstängel gegen meine eigenen Lippen, atmete den Tabakqualm langsam und tief ein, hielt ihn in der Lunge, den Atem angehalten, die Augen halb geschlossen — die schmerzerfüllte Wonne eines Nikotinsüchtigen, der zum ersten Mal nach viel zu vielen Tagen seine Dröhnung bekommt. Ich steckte ihm die Zigarette wieder zwischen die Lippen, und als ich ausatmete, spürte ich ganz sanft, wie er sie spitzte und die Andeutung eines Kusses auf meine Finger hauchte.
    »Ein Segen«, sagte ich.
     
    »Gott zum Gruße«, sagte er. »Ich dachte, du hast aufgehört.«
    »Das hab ich auch. Die Dinger bringen einen um. Schreckliche Angewohnheit, das.«
    »Genieß dein Leben, solang du kannst«, sagte er. »Es ist kurz genug.«
    »Lass mich bloß damit in Ruhe. Ich gedenke, einer dieser verrückten alten Knacker zu werden, die Kinder anbrüllen und ihnen den Spazierstock um die Ohren hauen. Das wird lustig. Was trinkst du denn da?«, fragte ich und ließ mich neben ihm auf dem Lederpolster eines Barhockers nieder. Ich zog einen Bierdeckel heran, bis er halb über den Rand des Holztresens ragte, und schnippte mit dem Daumen von unten dagegen. Als ich mit Daumen und Zeigefinger danach greifen wollte, verfehlte ich ihn ganz knapp und musste mich rasch bücken, damit er nicht auf den Boden fiel.
    »J. D. und Cola«, sagte er.
    »Weißt du, J. D. steht nicht für James Dean. Du ...?«
     
    Er legte den Kopf schief und schaute über meine Schulter hinweg zur Tür, mit einem Blick, den ich sofort wiedererkannte — ein Blick, in dem Verstörung, Aufmerksamkeit und Verlangen lag, und ich schüttelte spöttisch den Kopf, denn so gut kannte ich ihn bereits. Ich wandte mich um, folgte dem Pfeil seines Begehrens und entdeckte die beiden sofort, mit ihrem Blondhaar, das unter identischen Baseballmützen von Abercrombie & Fitch hervorlugte: WASP in Reinkultur — weiß, anglo-satyrisch und protestantisch. Ihre goldfarbenen Adlerschwingen stachen von ihren grauen Gap-Sweatshirts ab, die mehr nach Erstsemester aussahen als nach weißem Gesindel, und sie wirkten so sauber, anständig und hetero, dass es mich nicht wunderte, dass Puck, der sich von nichts aus der Fassung bringen ließ, den Blick nicht von ihnen losreißen konnte.
    »Um Himmels willen, was soll das. Das sind doch verdammte Balltrampel«, sagte ich. »Ich meine, Adonais Maria, die sehen aus wie Scheißfootballspieler.«
    »Ich stehe auf Scheißfootballspieler«, sagte Puck.
     
    Er behielt sie mit einer langsamen und zielgerichteten Drehung des Kopfes im Auge, während sie zur Bar schlenderten und Bier bestellten, eine ganz offene Anmache. Wenn er in Jagdstimmung war, kannte Puck keine Scham. Wenn überhaupt, genoss er seine Rolle, ob als Raubtier oder als Beute. Und daran, wie er das Kinn vorschob und sich seine Brauen wölbten, erkannte ich, dass er seiner Sache sicher war. Allerdings waren seine Augen nicht schmal, sondern weit aufgerissen, gleichzeitig

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