Velvet Haven - Pforten der Finsternis - Renwick, S: Velvet Haven - Pforten der Finsternis - Mists of Velvet - The Immortals of Annwyn Book Two
war schon Stunden her, seit er Keir zuletzt gesehen hatte, und noch mehr Zeit war vergangen, seit er sich in sein Büro zurückgezogen hatte, angeblich, weil er noch zu tun hatte.
Stattdessen hatte er die Zeit jedoch damit verbracht, an die Decke zu starren und darüber nachzudenken, was denn zum Teufel hier vor sich ging. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war, und das hieß ja schon einiges, wenn man sich sein Leben so ansah. Selbst nach Stunden der Selbstbetrachtung war er einer Antwort kein bisschen nähergekommen. Genau genommen hatte er sogar noch mehr Fragen als zuvor – Fragen, die nur Bran, Keir oder Annwyn selbst beantworten konnten.
Er wusste genug über die Anderwelt, um damit durchzukommen. Daegan war noch am Leben gewesen, als Rhys ein kleiner Junge war, wenn auch schon recht betagt – damals. Und selbst wenn ihn die oberste Göttin, Cailleach, zu einem Sterblichen gemacht hatte, war Daegan doch ein ungewöhnlich langes Leben beschert gewesen. Er war sogar so alt geworden, dass Daegans Sohn und sein Enkel ihn im
Herrenhaus hatten verstecken müssen, damit niemand auf die Idee kam, sich zu fragen, warum ein Mann, der im Alter von dreißig Jahren aus Schottland kam, hundertvierzig Jahre danach immer noch am Leben war.
Ein langes Leben war für die Sterblichen ein Geschenk, doch für Daegan war es nur eine weitere Strafe gewesen, denn er war gezwungen, fast ein ganzes Jahrhundert ohne seine geliebte Isobel zu verbringen.
Rhys warf einen Blick auf das Porträt des Paares, das über dem Kamin hing. Isobel war wunderschön, und Daegan strahlte eine Aura von Macht und Präsenz aus, die von seiner Abstammung aus der Anderwelt zeugte.
»Du siehst wie ein Sidhe aus«, hatte Daegan zu ihm gesagt, als er gerade mal sechs Jahre alt gewesen war. »Du bist der Erste meiner Nachfahren, bei dem das so ist. Komm, lass mich dich ansehen.«
Er hatte Rhys’ Kinn in seine runzelige, knorrige Hand genommen und ihn mit seinen violetten Augen betrachtet.
»Viel Sidhe-Blut fließt in dir. Du siehst mir sehr ähnlich.«
Rhys war natürlich verstört gewesen, denn was er sah, war ein schrumpeliger alter Mann. Er wollte nicht aussehen wie Ururgroßvater Daegan. Daraufhin hatte der alte Mann gelacht, denn er hatte seine Gedanken gehört. »Ich habe mal sehr gut ausgesehen. Und du wirst das auch. Komm schon, Bürschchen, ich werde dir von deinem Erbe erzählen. Denn ich glaube, dass du das Wissen, das dir meine Geschichten vermitteln, eines Tages gut brauchen kannst.«
Und von diesem Tag an fand sich Rhys fast immer im Zimmer seines Ururgroßvaters Daegan ein. Er erzählte ihm von Annwyn und von all den anderen Orten wie den
Sommerlanden und der Ödnis. Er erzählte ihm vom spiegelnden Teich und von all den unterschiedlichen Rassen, die die Anderwelt bevölkerten. Doch am liebsten waren Rhys die Geschichten über die Göttinnen. Selbst in seinem zarten Alter war er von der Vorstellung, dass da eine Gruppe von Frauen war, so wunderschön und bezaubernd, und dennoch voll ehrfurchtgebietender Macht, fasziniert gewesen.
Eines Tages aber begannen Daegans Geschichten sich nach und nach zu verändern. Sie klangen nun weniger wie Märchen, sondern eher wie ein Einmaleins des Überlebens. Sein Ururgroßvater hatte Rhys an den Fluch erinnert, den Cailleach seinen erstgeborenen männlichen Nachfahren auferlegt hatte. Aber er hatte ihm auch von Orten erzählt, an die Cailleachs Macht nicht unmittelbar heranreichte. Er hatte gelernt, dass der spiegelnde Teich sicher war, und Daegan bläute ihm wieder und wieder ein, wie er zu diesem Teich kam, sollte er den Schleier, der nach Annwyn führte, durchschreiten. Er erzählte Rhys von all den unterschiedlichen Tieren und wofür sie jeweils standen. Er erklärte ihm auch, dass sich gewisse Tiere bisweilen auf einen Bund mit einem Menschen einließen; wenn man dasselbe Tier dreimal sah, konnte man davon ausgehen, dass dieses Tier einen auserwählt hatte und von nun an sein Begleiter und Beschützer sein würde.
Anschließend hatte er ihm dann diese Kiste überreicht, die voller Talismane war – für seine Reise. Er hatte nie erwartet, dass er jemals einen Fuß nach Annwyn setzen würde, doch irgendwie hatte Daegan wohl vermutet, dass dies Rhys’ Schicksal war.
Jetzt öffnete er die Kiste und starrte auf den kleinen Zettel
und die von Daegan verfassten Worte. Denk an die Tiere. Sie werden dich leiten.
Dann zog er den Halsring und die Handgelenksmanschetten heraus, die typischen
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