Venedig sehen und stehlen
hinterher. Jeder Meter war für ihn eine Tortur. Dabei war er eigentlich ganz gut in Form. Vor einer Woche noch war er mit Zoe zusammen am Strand auf den Hamptons meilenweit gejoggt. Das war sicher der Jetlag und natürlich diese Scheißdroge. Die Tatsache, dass die Schubkarre fast einen Platten hatte, machte die Sache auch nicht gerade leichter. Die wenigen Straßenlaternen, die doch eigentlich eher schummrig waren, leuchteten so grell, dass er sich regelrecht geblendet fühlte.
Auch auf ebener Strecke drohte der »GESSO«-Sack immer wieder von der Karre zu hüpfen. Harry brach der Schweiß aus. Die Gummihandschuhe leuchteten rosa durch die Nacht und das Rad der altersschwachen Schubkarre quietschte in seinen Ohren wie eine Feuersirene. In was, um Himmels willen, war er da nur hineingeraten und wie sollte er das jemals Zoe erklären?
Er mühte sich wieder mit der tonnenschweren Schubkarre, als er sie vor Schreck beinahe hätte fallen lassen. Vor ihm, im Schatten eines Torbogens, stand plötzlich eine gebückte Gestalt. Der Mann hatte einen verzerrten Gesichtsausdruck und gab unverständliche Laute von sich. Dann ein »Buona sera« . Harry fröstelte.
»Buona sera, buona sera … sera. «
»Ist alles gut, Andrea«, rief Franca ihm zu.
»Buena sera, Buena sera. « Dann humpelte die Gestalt Richtung Giudecca-Kanal davon und stieß ein meckerndes Lachen aus.
»Wer war das denn?«, fragte Harry panisch.
»Stai calmo. Das war nur der verrückte Andrea. Der ist harmlos.«
Der »Molino« sah ganz anders aus, als Harry sich das vorgestellt hatte. Es war ein riesiges Backsteingebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, das gar nicht recht nach Venedig passte, sondern Harry eher an die Hamburger Speicherstadt erinnerte. Er hatte bestimmt sechs oder sieben Stockwerke. Der Mond beschien einen Innenhof, in den sie jetzt ihre Schubkarre schoben. Die meisten der Türen und Fenster waren vernagelt. In anderen waren die Reste zerbrochener Scheiben zu sehen. Das marode Mauerwerk war mit Graffiti übersät. Oben im Gebäude schlug ein loser Fensterflügel mehrmals gegen den Rahmen.
»Das steht hier seit den Fünfzigerjahren leer«, sagte Franca.
Ein paar Fledermäuse flatterten ein Stockwerk über ihnen von einem Gebäude zum anderen. Der Mond leuchtete so hell, dass sie die Taschenlampe, die Franca mitgenommen hatte, nicht brauchten. Die Szenerie war gespenstisch.
»Kein schlechter Platz für Carlo«, sagte Francesca, packte den auf der Schubkarre steckenden Spaten und stach in den von allerlei Unkraut überwucherten Boden.
»Hier direkt neben den Gebäuden?«, fragte Harry.
»Damit passiert so schnell nichts. Es wird immer mal diskutiert, ein Hotel daraus zu machen. Aber bis dahin ist Carlo verrottet.«
Sie stieß ihr kurzes kehliges Lachen aus, was Harry mit einem Mal sehr abstoßend fand.
»Avanti, Harry!« Sie hielt ihm den Spaten hin. Mit der anderen Hand wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Damenrevolver.
Er hatte keine Vorstellung, wie lange er dort auf dem Gelände des »Molino Stucky« gegraben hatte. Aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Der Boden war staubtrocken und steinig. Immer wieder stieß er beim Graben auf Hindernisse, alten Schutt und Steine, die im Weg waren. Jeder Spatenstich war eine Qual. Franca stand über ihm am Rand der Grube und spielte mit ihrer »Kolibri«. Sonderlich tief war das Loch nicht, das er zustande gebracht hatte. Aber es schien ihr zu reichen. Gemeinsam ließen sie Francas lästigen Vermieter mit einem Schwung von der Schubkarre in sein Grab rutschen. Der sorgfältig verpackte Carlo hatte gerade eben hineingepasst. Auf seiner Brust war im Mondlicht, wie die Aufschrift auf einem T-Shirt, das Wort »GESSO« zu erkennen gewesen.
Die großen blauen Buchstaben standen Harry noch deutlich vor Augen, als er sich zu seiner Zimmertür schleppte.
9
»Signor Ooldenburg-e, una signora per Lei« , hörte er die Stimme vor der Tür noch einmal.
»Ja ja«, sagte Harry jetzt auf Deutsch. War das etwa schon die Polizei, die ihn sprechen wollte? »Signora« hörte sich eigentlich nicht nach Polizei an.
Als er den schwer gängigen Zimmerschlüssel im Schloss drehte und die Tür öffnete, stand Signora Rosa höchstpersönlich vor ihm. Sie trug wieder zwei Kittel übereinander.
»Ecco qui è il Signor Ooldenburg-e, Signora, prego« ,rief Signora Rosa laut in Richtung der Muranoglas-Trauben im Treppenhaus. Sie warf ihm einen kurzen missbilligenden Blick zu. Dann versuchte sie neugierig, an
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