Venedig sehen und stehlen
Hintereingang verließen, fand Harry eigentlich ganz passend.
Während sie mit dem Vaporetto den Canal Grande hinauffuhren, sah er sich immer wieder nach Polizeibooten um. Jeden Anleger, an dem sie festmachten, suchte er schon von Weitem nach den dunklen Uniformen mit roten und weißen Streifen ab. Aber überall drängelten sich nur amerikanische und deutsche Touristen. Jeder zweite von ihnen hatte so eine Plakatrolle aus dem Guggenheim-Museum in der Hand. Harry hätte sie am liebsten alle nach der »Sitzenden Frau II« durchsucht.
Die Ereignisse der vergangenen Tage saßen Harry noch in den Knochen. Seine Nerven lagen allmählich blank und der Transport des Giacometti kam ihm plötzlich furchtbar riskant vor. Zoe hatte da weitaus bessere Nerven. Sie hatte ganz entspannt die Füße auf den Seesack gelegt und ließ noch einmal die Palazzi an sich vorüberziehen. Sie freute sich auf eine Bahnfahrt durch Italien und auf ein anonymes Hotelzimmer in Rom, wo sie endlich mal alleine sein würden. Vor allem freute sie sich auf zu Hause. Und sie musste unbedingt einen Termin bei ihrem Frauenarzt machen.
Aus der Bahnhofshalle mit ihrer faschistischen Architektur hatten sie einen letzten Blick auf Venedig. Der kalte Marmorboden reflektierte das gleißend hereinflutende Licht. Durch die breite verglaste Türenfront erschienen die alten Fassaden, der Vaporetto-Anleger und die Touristenströme wie eine Postkarte in Cinemascope.
»Amaiiizing« , rief eine amerikanische Touristin. Und eine Gruppe japanischer Teenager mit Riesenrucksäcken stolperte kichernd von den Fondamenta degli Scalzi in den Bahnhof. Sie hatten alle eine Plakatrolle aus dem Guggenheim in der Hand.
20
Im Nachhinein war der Guggenheim-Coup eigentlich gar nicht so schlecht gelaufen. Nur die Kontrolle im Flughafen in Rom war noch mal sehr aufregend gewesen.
Als Harry sich in der Schlange den Sicherheitsleuten näherte, hämmerte sein Herz wie wild. Den Handdetektoren, die wie eine zu groß geratene Lupe aussahen, traute er nicht. Am liebsten wäre er auf der Stelle wieder umgekehrt. Als er dem Kontrollpersonal dann aber auf Italienisch etwas von grande frattura und metallo vorstotterte, wurden die Leute richtig nett. Da war es sehr von Vorteil, dass Italiener ausgesprochen freundlich auf radebrechende Touristen reagieren. Die Riesenlupe piepste wie verrückt, als sie sein Gipsbein entlangfuhr, und die italienische Flughafenaufsicht amüsierte sich köstlich. Endlich konnten sie mal zeigen, was ihr Gerät so draufhatte.
Mittlerweile war Giacomettis »Stehende Frau« übrigens wieder im Guggenheim-Museum gelandet. Angeblich, denn ob das wirklich stimmte, konnte Harry nicht überprüfen. Der Diebstahl des Miró war groß durch die Zeitungen gegangen. Aber von dem Giacometti war nie die Rede gewesen. Harrys Kopie aus Plastilin war den Museumsleuten mehrere Wochen lang gar nicht aufgefallen. Und der Versicherung war schon das Original angeboten worden, bevor der Diebstahl überhaupt aufgeflogen war.
Harry und Zoe wussten das über den geheimnisvollen Herrn, der ihnen für den Miró hundertfünfzigtausend Dollar in Aussicht gestellt hatte. Als sie ihm stattdessen jetzt Giacomettis »Stehende Frau« anboten, ließ er sich darauf erstaunlich bereitwillig ein. Die Erklärung war einfach. Der ominöse ältere Herr mit den gelblichen Haaren und der Schildpattbrille, den er aus Sam Liebermans Galerie kannte und schon mal mit einer gefälschten Klee-Radierung beliefert hatte, war kein fanatischer Sammler, wie er Harry erzählt hatte. Er unterhielt vielmehr höchst lukrative Beziehungen zu den einschlägigen Versicherungen, mit denen er Lösegelder über die Rückführung abhandengekommener Bilder verhandelte, wie er das nannte. Giacomettis »Stehende Frau« versprach für ihn ein noch besseres Geschäft als der Miró.
Harry und Zoe hatten sich, wie sie im Nachhinein fanden, wohl etwas vorschnell auf den Handel eingelassen. Bei einer Summe von hundertfünfzigtausend kam vor allem der Mann mit der Schildpattbrille auf seine Kosten. Die Versicherungssumme schätzte Harry auf mindestens eine Million Dollar, und ein Viertel konnte der Hehler mit der Versicherung bestimmt aushandeln.
Aber sie wollten die Plastik unbedingt schnell aus der Wohnung bekommen. Sam Liebermann war völlig ausgerastet, als er auf einmal die Giacometti-Figur im Hinterzimmer neben der alten Radierpresse stehen sah. So sorglos er mit Fälschungen umging, Diebesgut wollte er auf keinen Fall bei
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