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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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denken musste, um den Nörgeleien von Signora Zuliani mit erstaunlicher Gelassenheit zu begegnen. Die Gewissheit, diese Kleidungsstücke zu besitzen, gab ihr Kraft und Zuversicht, so wie anderen Leuten der Gedanke an die Jungfrau Maria Kraft gab oder die Vorstellung eines saftigen Bratens in der Ofenröhre.
    Und natürlich war es ein ungeheures Vergnügen, den  Mantel und die Schuhe abends auf der Piazza spazieren zu führen. Das hatte sie bereits gestern getan – allerdings bei Nebel und leichtem Nieselregen, was den Genuss allein schon wegen des fehlenden Publikums beeinträchtigt hatte.
    Heute jedoch war der Himmel klar, und das Licht des  Mondes, der rund und gelblich wie ein Pfannkuchen über  der Stadt hing, wetteiferte mit den Gaslaternen der Piazza.
    Sie war bis zur Mitte des Markusplatzes gelaufen. Dort –  zwischen dem österreichfreundlichen Café Quadri und dem österreichfeindlichen Café Florian – blieb sie stehen und sah sich um.
    Trotz der späten Stunde war die Piazza voller Menschen  – fast wie an einem Sommerabend. Überall standen öster reichische Offiziere in kleinen Gruppen herum, liefen Pulks von elegant gekleideten Fremden umher. Tauben flatterten empor, wurden gefüttert oder vertrieben, und kleine Schlangen bildeten sich vor den Ständen, an denen galiani und frittolini verkauft wurden. Vor dem Campanile hatte ein  Maronenverkäufer seinen Stand aufgebaut, über dessen  Kohlenbecken sich schwacher Rauch in der nächtlichen  Herbstluft kräuselte.
    Angelina Zolli ging langsam in Richtung Molo weiter.
    Sie spürte die Berührung des Mantelkragens an ihrem Hals und genoss den Klang ihrer Absätze auf den Steinplatten der Piazza – dieses sonore Klack-Klack, das auch die Stiefel von Erwachsenen machten.
    Sie hatte zwei Tage gebraucht, um sich an die Absätze ihrer neuen Schuhe zu gewöhnen. Genauso lange hatte es gedauert, bis Signora Zuliani davon überzeugt war, dass es bei dem Erwerb des Kleides, des Mantels und der Schuhe mit rechten Dingen zugegangen war. Natürlich hatte sie ihr  nichts von ihrem merkwürdigen Einkauf bei Signor Levi vom Stamme Nimm erzählt. Sie hatte eine Geschichte über einen weiteren Besuch in der questura erfunden und etwas von Finderlohn für die Brieftasche fabuliert. Dass Signora Zuliani in der questura nachfragen würde, war auszuschließen. Signora Nachwischen hatte zu viel Respekt vor einem Commissario von San Marco – der überdies noch ein waschechter Conte war –, um ihn wegen einer Lappalie zu belästigen.

    Angelina Zolli entdeckte den Mann auf der Piazzetta, als er höchstens drei Schritte von ihr entfernt hinter einer Gruppe von Kroatischen Jägern hervorkam und stehen blieb – ein glatt rasierter, unauffälliger Mann, dessen einziges Merkmal (doch daran erkannte sie ihn sofort) die buschigen Augenbrauen waren. Er trug einen runden schwarzen Hut, wie Priester ihn tragen, und seine Hände steckten in den Taschen eines ebenfalls schwarzen Mantels. Sein Blick glitt über die Menge, als würde er jemanden suchen, und einen furchtbaren Augenblick lang sah er sie an.

    Der Schock, den sie empfand, als seine Augen sie streiften, fühlte sich eisig und glühend heiß zugleich an – er schien alle Kammern ihres Verstandes zu füllen. Plötzlich rückte ein hysterischer Schreikrampf – so wie ihn Signora Nachwischen gehabt hatte, als sie vor ein paar Tagen in ihrem Bett eine tote Maus entdeckt hatte – in greifbare Nähe.
    Angelina Zolli hielt ihn durch schiere Willenskraft auf Armeslänge von sich.
    Dann sah sie mit grenzenloser Erleichterung, wie der  Mann sich abwandte und auf die hölzernen Stege zulief, an denen die Gondeln warteten. Er hatte sie nicht erkannt – was zweifellos daran lag, dass sie den Mantel und die Schuhe aus dem Geschäft Signor Levis (möge sein Tod noch tausend Jahre auf sich warten lassen) getragen hatte.
    Angelina Zolli stieß einen harschen, bebenden Seufzer  der Erleichterung aus. Beängstigend war allerdings die Tatsache, dass sie ihn wahrscheinlich ebenfalls nicht erkannt hätte, wenn er mehr als nur ein paar Schritte von ihr entfernt an ihr vorbeigelaufen wäre. Denn als er weiterging, stellte sie fest, dass er nicht hinkte – nicht mehr hinkte.
    Jetzt hatte der Mann den Molo erreicht, und Angelina  Zolli beobachtete, wie er mit einem der Gondolieri sprach, die dort auf Kundschaft warteten. Dann stieg er ein, die Gondel löste sich vom Steg, und ein paar Minuten später verschwand sie im Schwarz des

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