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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Blick über die Piazza schweifen. Ein paar Tauben, deren Gefieder das schmutzige Grau des Himmels imitierte, flogen auf, drehten eine kleine Runde und landeten wieder auf dem regennassen Pflaster. Direkt vor ihm kaufte ein gut gekleideter Fremder einem fliegenden Händler eine Tüte Mais ab, zweifellos, um die Tüte an Gattin und Tochter  weiterzureichen, die den Mais gleich an die Tauben verfüttern würden. Selbstverständlich hatten sie keine blasse Ahnung davon, dass mit jeder Taube, mit jeder fliegenden Ratte, die über ihren Köpfen flatterte, ganze Heerscharen von Milben auf sie herabrieselten.
    In der letzten Woche hatte er dreimal voll getroffen und erfreuliche Resultate erzielt, aber heute würde er sich darauf beschränken müssen, seine Körperhaltung und seinen Gang zu kontrollieren. Das war ein bisschen so, als würde man auf einer stummen Klaviatur oder auf einer Violine mit eingefetteten Saiten spielen, aber es war besser als gar nichts.
    Der Trick war ganz einfach. Er bestand darin, die Mus kelbewegungen beim Laufen auf das Minimale zu beschränken. Also nicht mit den Armen zu rudern und auch  die Beine nicht hektisch zu schlenkern, sondern, wenn man sich einem Haufen pickender Tauben näherte, mit ruhigem Oberkörper möglichst kleine Schritte zu machen. Alles andere versetzte die Tierchen in eine dumpfe Alarmbereitschaft, und das durfte nicht sein.
    Der mit dem rechten Fuß ausgeführte Tritt, der locker  aus dem Fußgelenk zu erfolgen hatte, entfaltete nur dann seine Wirkung, wenn er aus großer Nähe erfolgte. Drei Handbreit Abstand zwischen Stiefel und Taube war das  Maximum. Ansonsten galt: je näher, desto besser. Perfekt war ein Tritt, der das Vieh nicht am Hals oder am Kopf, sondern direkt an der Brust erwischte. In der letzten Woche hatte er einen solchen perfekten Tritt gelandet. Die fliegende Ratte war ein paar Meter durch die Luft gesaust (ohne dass sie ihre Flügel benutzen musste), war auf dem Rücken gelandet und hatte zuckend auf dem Pflaster gelegen. Die Versuchung war groß gewesen, dem Mistvieh durch einen  zweiten Tritt den Rest zu geben, aber dann hatten sich ihm zwei uniformierte Polizisten genähert, und diese Venezianer waren bekanntlich unberechenbar.
    Er ging mit sparsamen Bewegungen weiter, passierte eine Gruppe von Kaiserjägern, die rauchend vor dem Mar kusdom standen. Als er die Piazzetta erreicht hatte und die Gondeln vor dem Molo sah, die wie längliche Schmutzflecke in einer grünlichen Soße schwammen, stellte er wieder fest, dass er Venedig nicht ausstehen konnte.
    Einen Moment lang wehte ein Schwall frischer Mee resluft von der östlichen Lagune auf den Molo, aber er ließ sich nicht täuschen. Wenn im Frühling die Temperaturen anstiegen, würde wieder dieser furchtbare Geruch nach  Tang und verfaultem Fisch über der Stadt liegen, der ihm das Atmen bisweilen unmöglich machte. Angeblich hielten Ebbe und Flut die Kanäle sauber, doch das war natürlich ein Gerücht, denn sonst würde die Stadt im Sommer nicht so unerträglich stinken. Er war sich ziemlich sicher, dass man all diese Kanäle – diese offenen Kloaken – irgendwann zuschütten würde. Damit würden auch diese affigen Gondeln verschwinden, und anstelle des Canal  Grande würde es eine breite, saubere Straße geben. Mit  einer Pferdebahn.
    Er wandte sich am Molo nach rechts, kam an der Rück seite des Palazzo Reale vorbei und nahm dann, ohne ein  bestimmtes Ziel anzusteuern, den Traghetto, der ihn auf die andere Seite des Canalazzo nach Dorsoduro brachte. Hinter  Santa Maria della Salute, deren kitschige Kuppel ihn immer an einen riesigen Konfektaufsatz erinnerte, bog er in eine Gasse ein, die ins Innere der Landzunge führte, und ließ sich durch das Labyrinth der kleinen Gassen treiben. Er glaubte schon, sich verirrt zu haben, als er plötzlich wieder den Canalazzo erblickte und auf dem kleinen Platz vor der Accademia stand, von dem die gusseiserne Brücke zurück nach San Marco führte.
    Auf der Brücke blieb er einen Moment lang stehen, legte die Hand auf das Geländer und spürte das kalte Metall unter seinen Fingern. Gusseisen war etwas Solides. Kein bröckelnder Ziegelstein, von dem der Putz oder die Marmorverkleidung abfiel, sondern präzise Ingenieursarbeit, aus vorgefertigten Teilen in ein paar Tagen an Ort und Stelle zusammengebaut. Gusseisen hatte auch etwas Militärisches – etwas, auf das man sich verlassen konnte.
    So wie auf seinen Instinkt, dachte er, indem er die Stufen

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