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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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auf der anderen Seite der Brücke zum Campo San Vidal herabstieg. Auf seinen Instinkt hatte er sich bisher immer verlassen können. Und der sagte ihm, dass die kleine Kröte, wenn sie ihren Schock erst überwunden hatte, sich auch an sein Gesicht erinnern würde. Und nichts Besseres zu tun haben würde, als auf die questura zu sausen, um diesem Tron einen perfekten Steckbrief zu liefern. Tron war kein Dummkopf. Es würde keine Viertelstunde dauern, bis bei ihm der Groschen fiel. Früher oder später würde er eine Gegenüberstellung organisieren. Keine offizielle Gegenü berstellung – natürlich nicht. Der Commissario und das  Mädchen würden einfach bei ihm auftauchen, und die kleine Kröte würde vor ihn treten, mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen: Ja, Commissario, das ist der Mann. Dann hatte er schlechte Karten. Ganz schlechte Karten. Es war ein  Fehler, dass er das Mädchen am Leben gelassen hatte. Jetzt musste er es finden. Und zwar schnell.
    Er lief geradeaus weiter, bog ein paar Minuten später am Campo Sant Angelo nach rechts ab und stellte hundert Schritte weiter fest, dass er vor einer Brücke stand, die über den Rio della Verona führte. Mein Gott, war es wirklich so, dass es den Mörder immer zum Schauplatz seiner Tat zurückzog? Er dachte kurz darüber nach, kam dann aber zu dem Schluss, dass das Unsinn war. Er war deshalb nach rechts abgebogen, weil er Rechtshänder war. Wenn Leute  ziellos durch die Stadt liefen, dann gingen sie an Kreuzungen meistens in die Richtung ihrer dominierenden Hand.
    So einfach war das.
    Links von der Brücke stand ein einstöckiges, mit runden Coppi-Ziegeln gedecktes Gebäude, in dessen Erdgeschoss ein Maskengeschäft untergebracht war. Er trat näher und betrachtete einen Augenblick lang sein Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. Was er sah, war ein durchschnittlich aussehender Mann, dessen ein wenig zu triviale Züge keine Aufmerksamkeit erregten. Wäre sein Kinn markanter gewesen und seine Stirn höher, dann wäre es  vielleicht ein Gesicht gewesen, nach dem sich die Frauen umdrehten, um noch einen zweiten Blick darauf zu werfen.
    Aber das Gesicht, das ihn aus der Schaufensterscheibe ansah, hatte keine besonderen Merkmale – es hatte nichts, woran sich ein Zeuge ohne weiteres erinnern würde, und das war unter den gegebenen Umständen sehr beruhigend.
    Denn das andere Problem bestand in der Übergabe der  Photos, die heute Nacht stattfinden würde. Eine Schnitzeljagd durch das nächtliche Venedig zu veranstalten war natürlich überflüssig und albern – das hätte besser auf einen Kindergeburtstag gepasst, aber es würde die Dinge für ihn  vereinfachen. Die Schnitzeljagd würde ihm genau die Zeit verschaffen, die er brauchte.
    Als er sein Gesicht von der Fensterscheibe abwandte, sah er die Taube. Sie saß, nur ein paar Schritte von ihm entfernt, auf den algenbewachsenen Stufen, die zum Rio della Verona hinabführten, und pickte auf einem Stück Brot herum.
    Die Taube war vollständig weiß, nur ihre Flügelspitzen  hatte eine hellgraue, fast unsichtbare Zeichnung. Er ging langsam auf sie zu, blieb eine Handbreit vor ihr stehen und verlagerte sein Gewicht vorsichtig auf das linke Bein, bevor er seinen rechten Fuß mit aller Kraft nach vorne schnellen ließ. Die Stiefelspitze traf die Taube mitten auf die Brust, und diesmal hörte er sogar das Knacken, mit dem ihre Rippen brachen. Es war ein feines, knisterndes Knacken, das klang, als würde man auf trockenes Laub treten. Dann sah er, wie die Taube sich in der Luft überschlug und hinter den Stufen verschwand.

26

    Acht Stunden später – es war inzwischen kurz vor elf – betrat Angelina Zolli den Markusplatz. Sie hatte das Gefühl, alle Leute würden bewundernde Blicke auf sie werfen. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass wohl niemand einer jungen Signorina wegen eines abgewetzten Mantels und eines Paars abgetretener Schuhe bewundernde Blicke zuwarf, aber sie hatte nicht die Absicht, sich ihr Gefühl durch kleinliche Überlegungen verderben zu lassen.

    Nach der Abendmesse hatte sie zweimal in den Ecken  hinter dem Altar nachwischen müssen (der Erlöser verabscheute schmutzige Ecken), und wie üblich hatte ihr Signora Zuliani jedes Mal einen Platz in der Hölle in Aussicht gestellt. Doch diesmal hatte sie das Höllenfeuer, das Signora Nachwischen vor ihren Augen entzündet hatte, kalt gelassen.
    Angelina Zolli hatte festgestellt, dass sie nur an ihr Kleid, ihren Mantel und an ihre Schuhe

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