Venezianische Verlobung
Träne unter dem rechten Auge.
Tron hob die Brauen. «Ist das der Grund, aus dem wir den Rio Felice zweimal entlanggefahren sind?»
Das Gesicht unter der Maske senkte sich. «Es war not wendig, um festzustellen, ob Ihnen jemand folgt.»
«Mir ist niemand gefolgt.»
«Was auch nicht sehr klug gewesen wäre. Haben Sie das Geld?»
«Haben Sie die Photographien?»
«Nein. Das wäre viel zu riskant.»
«Und wo sind die Photographien?»
«An einem sicheren Ort in der Nähe.»
Tron zuckte die Achseln. «Worauf warten wir dann noch?»
Wieder hob sich die rechte Hand des Mannes, diesmal um auf etwas hinter Trons Rücken zu deuten. Tron drehte sich um und begriff, was der Mann damit sagen wollte. Eine Gruppe von Ballgästen, die eben gekommen war, drängte sich lärmend vor dem Büfett und wartete ungeduldig darauf, bedient zu werden. Es war klar, dass niemand freiwillig Platz machen würde, um einen schmächtigen Domi no und eine zweifelhaft aussehende Frau mit einer albernen blonden Perücke vorbeizulassen.
Die Frau mit der blonden Perücke – der Mann – sagte:
«Wir können entweder noch ein paar Minuten hier stehen, bis wir an der Tanzfläche vorbeikönnen, oder …» Er hielt inne, um hinter seiner Maske in kurzes Nachdenken zu versinken.
«Oder?»
Diesmal klang der Maskierte eindeutig kokett. «Oder auf die andere Seite zum Ausgang tanzen», sagte er, und einen Augenblick lang konnte sich Tron sein Gesicht hinter der Maske vorstellen: geschminkt und gepudert, mit rot angemalten Lippen, geschwärzten Wimpern und Rouge auf den Wangen. Er war so verblüfft über den Vorschlag, dass ihm nichts anderes einfiel, als das letzte Wort der Frage wie ein Erstklässler zu wiederholen. «Tanzen?»
Die Hand des Mannes mit der blonden Perücke landete auf seinem Arm, wo sie ein paar Sekunden liegen blieb.
«Können Sie nicht tanzen? Walzer?»
«Ja, sicher. Aber …»
«Wollen Sie führen?»
«Wie bitte?»
«Ich fragte, ob Sie führen wollen.»
Nein – wollte er nicht. Wirklich nicht. Was er wollte, waren die tausend Lire in Gold und die Photographien.
Und vor allem wollte er von hier verschwinden.
«Kommen Sie», sagte er zu dem Mann mit der blonden Perücke. Die Perücke war ein wenig verrutscht, sodass man einen schwarzen Haaransatz sehen konnte. Tron überlegte kurz, ob er es dem Mann sagen sollte, doch dann unterließ er es. Stattdessen packte er den Oberarm des Mannes, stieß ihn in die Tanzenden hinein und versuchte, den spitzen Schrei zu ignorieren, den der Maskierte von sich gab.
In den nächsten fünf Minuten sah Tron sich ungläubig dabei zu, wie er mit einer blonden Frau, die weder blond noch eine Frau war, über die Sägespäne der Tanzfläche walzte. So lange dauerte es, bis sie die andere Seite des Raumes erreicht hatten, denn sie waren gezwungen, sich dem Strom der Tanzenden anzupassen, der wie ein langsam drehendes Mühlrad durch den Raum kreiste.
28
Als sie vor die Tür traten, diesmal auf der anderen Seite des Gebäudes, schien die Luft noch klarer geworden zu sein.
Der Mond war ein Stückchen nach Osten gerückt und stand jetzt so, dass sein Licht nicht nur die oberen Stockwerke der Häuser erreichte, sondern auch den Grund der Gasse erleuchtete. Sie liefen hundert Schritte geradeaus und bogen dann in eine schmale calle ein, die direkt auf die Fondamenta Nuove zulief. Vor dem dritten Haus hinter der Ecke machte der Maskierte Halt und zog einen Schlüssel aus der Tasche.
Das Scharnier knarrte mit Grabesecho, als er die Tür aufstieß. Der Mann entzündete eine Kerze, und Tron folgte ihm in ein überraschend geräumiges Vestibül, dann in einen großen Raum mit kahlen Wänden. Die Wandflächen waren durch Pilaster gegliedert, die sich zur Täfelung einer stückweise abgebröckelten Decke emporreckten. Außer einem Tisch, der in der Mitte des Salons stand und von einer Petroleumlampe erleuchtet war, war der Raum leer.
Das ganze Gebäude schien lange Zeit nicht mehr betreten worden zu sein, denn überall lag feiner Staub, der sich bei jedem Schritt vom Boden löste und wie trockener Nebel emporwirbelte. Durch ein schmutziges Fenster drang fahles Mondlicht herein, trüb wie gestautes Wasser, das die Wand mit schwarzen Schattenpunkten sprenkelte.
Der Maskierte trat ans Fenster, blickte hinaus und blieb einen Moment lauschend stehen. Dann drehte er sich zu Tron um. «Legen Sie das Geld auf den Tisch», sagte er. Er holte unter seiner Maske tief Luft und atmete
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