Venezianische Versuchung
wollte sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen. Sie beschloss, noch einmal – ein letztes Mal – den Blick auf den nächtlichen Canal Grande zu genießen. Entschlossen begab sie sich nach nebenan. Auf nackten Füßen trat sie ans Fenster und legte die Stirn an das kühle Glas.
Nebel waberte über dem Wasser. Und während Jane versuchte, ihn mit Blicken zu durchdringen, normalisierte ihr Herzschlag sich nach und nach. Wie still die Nacht war! Nicht einmal das Plätschern des in Venedig allgegenwärtigen Wassers war zu hören. Auch aus dem Stockwerk, in dem der Duke sich aufhielt, drang kein einziger Laut. Vermutlich war Aston inzwischen ins Bett zurückgekehrt. Ob er jetzt die Briefe seiner Töchter las? Nein, aufbrausend wie er war, hatte er sie wahrscheinlich auf den Nachttisch geworfen.
Gleich morgen wird er mich vor die Tür setzen, dachte Jane erneut.
Seufzend ließ sie sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch sinken und nahm Papier und Feder, um ein Schreiben an ihren Arbeitgeber zu verfassen, ihre Kündigung.
„Euer Gnaden!“ Verschlafen näherte Wilson sich aus dem Nachbarzimmer seinem Herrn. Er trug eine gestreifte Nachtmütze, die ein wenig verrutscht war, ein Nachthemd und dazu eine Kniehose. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, ich habe Sie nicht rufen hören.“
„Ich habe nicht gerufen.“ Richard Farren, Duke of Aston, stand in der geöffneten Tür und starrte in den dunklen Flur hinaus. Soeben war Miss Wood seinen Blicken entschwunden. Ihr Auftauchen kam ihm vor wie ein schlechter Traum. Im Nachtgewand mit zerzaustem, offenem Haar und funkelnden Augen hatte sie vor ihm gestanden wie eine Rachegöttin. Eine verflucht kleine Rachegöttin, aber dennoch irgendwie … einschüchternd. Himmel, es musste ein Traum gewesen sein! Er ließ sich von nichts und niemandem einschüchtern!
„Euer Gnaden“, sagte der Kammerdiener, der verzweifelt versuchte zu begreifen, was vorging, „ich dachte, ich hätte Stimmen gehört.“
„Ich hatte unerwarteten Besuch.“
„Sie haben selbst die Tür geöffnet? Das hätten Sie nicht tun sollen, Euer Gnaden. Dies ist ein fremdes Land. Sie sind hier nicht sicher.“
„Keine Sorge, es bestand keine Gefahr für mich. Es war kein Räuber, der mich zu sprechen wünschte, sondern Miss Wood.“
„Miss Wood?“, wiederholte Wilson erstaunt. „Unsere Miss Wood? Sie hat mitten in der Nacht an Ihre Tür geklopft, Euer Gnaden? Das ist merkwürdig.“
„Allerdings. Ich wollte es selbst kaum glauben. Aber sie war tatsächlich hier, um mir … etwas zu bringen.“ Er hob die Hände, in denen er die beiden ordentlich mit Bändchen verschnürten Briefsammlungen hielt.
Natürlich waren die Bündel ordentlich verschnürt. Und selbstverständlich hatte die Gouvernante jedes Schreiben sorgfältig in den dazugehörenden Umschlag zurückgesteckt. Zweifellos waren die Briefe auch nach Datum sortiert. Etwas anderes war von Miss Wood nicht zu erwarten. Stets hatte sie sich als gewissenhaft, zuverlässig und ordentlich erwiesen. Bis zu dieser Nacht hatte sie niemals etwas getan, das gegen die Regeln verstieß. Ihr Auftritt im Nachthemd war einfach unfassbar! Noch unglaublicher war, dass sie es gewagt hatte, ohne Umschweife ihre Meinung zu sagen.
„Miss Wood war hier?“, vergewisserte der Kammerdiener sich noch einmal. „Jetzt um Mitternacht? Und ohne, dass Sie sie gerufen hätten, Euer Gnaden? Dafür muss sie einen wirklich wichtigen Grund gehabt haben.“
„Hm …“, murmelte Richard, der sich das seltsame Verhalten der Gouvernante nicht erklären konnte. Sicher, sie war ihm ungewöhnlich erregt vorgekommen, als sie ihm bei seiner Ankunft gebeichtet hatte, dass seine Töchter nicht da waren. Gewiss hatte ihr schlechtes Gewissen sie geplagt. Sie hätte eben nicht zulassen dürfen, dass Mary und Diana ohne väterliche Einwilligung heirateten. Sonst allerdings war ihm nichts an ihr aufgefallen. Sie hatte ausgesehen wie immer – na ja, vielleicht hatte sie etwas abgenommen –, und sie hatte sich verhalten wie immer. Wie eine Gouvernante eben.
Wahrhaftig, dachte Aston, nichts an ihrem Benehmen vor ein paar Stunden hat auf diesen mitternächtlichen Besuch hingedeutet, und nichts darauf, dass ich … dass ich …
Es fiel ihm schwer, sich das einzugestehen. Die Frau mit dem offenen Haar, den funkelnden Augen und dem verräterischen Nachthemd hatte den Mann in ihm geweckt. Dabei war Miss Wood bisher ein geschlechtsloses Wesen für ihn gewesen, jemand, der zu seinem Personal
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