Venezianische Versuchung
hatte sie ihren Gouvernanten-Ton gewählt. „Hier würde es niemanden interessieren, dass die Farrens hundertmal besser sind als die di Rossis. Sie sind ein Engländer, Richard. Ein Fremder in Venedig. Alle Welt würde sich gegen Sie stellen.“
Er runzelte die Stirn. „Ich bin nicht der einzige Engländer hier. Sie selbst, Jane, kommen ebenfalls aus England.“
„Das habe ich nicht vergessen. Aber überlegen Sie sich doch einmal, was passiert wäre, wenn das Ganze in London und nicht in Venedig geschehen wäre. Wie würden unsere Landsleute einen Venezianer behandeln, der einer Engländerin zu nahe tritt? Man würde ihn ins Gefängnis werfen, nicht wahr? Und genau das droht hier jedem Ausländer, der einen Venezianer angreift.“ Ein Schauer überlief sie. „Es heißt, dass das Verlies im Dogenpalast zu den meist gefürchteten Gefängnissen in der ganzen Welt gehört. Und ich möchte wahrhaftig nicht, dass einer von uns es kennenlernt! Verstehen Sie das, Richard? Was muss ich tun, um Ihnen meine Sorge begreiflich zu machen?“
„Verlassen Sie mich nicht!“ Seine Stimme war völlig verändert. „Im ersten Moment, da ich Sie mit di Rossi sah, dachte ich, ich hätte Sie verloren.“
„O Richard!“ Zu ihrem Erstaunen traten ihr Tränen in die Augen. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht verhindern, dass gleich darauf ihre Wangen nass waren. Verlegen suchte sie nach einem Taschentuch. „Ich werde Sie nicht verlassen, Richard“, flüsterte sie. „Weder wegen Signor di Rossi noch wegen irgendeines anderen Mannes. Sie müssen der größte Dummkopf unter der Sonne sein, wenn Sie mir nicht glauben.“
„Bitte, nicht weinen!“ Er legte den Arm um ihre Schulter, und Jane schmiegte sich an ihn.
Sie schluchzte noch einmal auf, stieß einen langen Seufzer aus und versuchte, sich die Tränen mit dem Handrücken abzuwischen. Doch da hielt Richard ihr ein großes angenehm duftendes Taschentuch hin.
„Danke!“ Sie schüttelte das gefaltete Tuch auseinander. Das Flattern des weißen Leinens erschreckte ein paar Tauben, die auf einem Hausdach nahe dem Kanal gesessen hatten, so sehr, dass sie in den dunklen Himmel stiegen. Gemeinsam schauten Jane und Richard ihnen nach.
„Meine Mutter starb an den Pocken“, sagte er so, als spräche er zu den Vögeln und nicht zu Jane, „als ich im Internat war. Meine Gattin wurde nach kaum fünf Jahren von meiner Seite gerissen. Nun sind auch meine Töchter fort, weil sie geheiratet haben. Ich scheine stets derjenige zu sein, der allein zurückbleibt. Ich weiß natürlich, dass ich keine Ansprüche auf Sie und Ihre Zuneigung geltend machen kann, Jane. Aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Sie diejenige sein könnten, die bei mir bleibt … Da haben Sie’s: Ich bin wirklich ein großer Dummkopf!“
„Oh, ich werde bleiben.“ Noch immer strömten ihr Tränen übers Gesicht. Sie versuchte nicht, sie fortzuwischen, sondern schlang die Arme um Richards Taille. „Wenn Sie ein Dummkopf sind, dann will ich der Dummkopf an Ihrer Seite sein. Sogar wenn wir die zwei dümmsten Menschen in Venedig wären, würde mich das nicht stören.“
„Sie müssen wirklich ein Dummkopf sein“, murmelte er zärtlich. Dann legte er ihr zwei Finger unters Kinn und zwang sie, den Kopf ein wenig zu heben. „Was für ein seltsames Paar wir doch sind …“
Ja, was für ein seltsames Paar, dachte Jane, während sie die Augen schloss und Richards Kuss voller Liebe erwiderte. Ein Paar, wie man es wohl nur in Venedig finden konnte …
Doch ihre Tage in Venedig waren gezählt. Sie schienen wie im Flug zu vergehen. Und tief in ihrem Herzen wusste Jane, dass sie die Zeit nicht anhalten konnte.
„Miss Wood weiß, dass das Geschenk von mir kam?“, fragte di Rossi und starrte auf das kleine Päckchen, das der Diener auf einem silbernen Tablett hereingebracht hatte.
Seit jenem so unglücklich verlaufenen Treffen im Theater vor drei Tagen hatte der Venezianer täglich ein solches Päckchen in die Ca’ Battista geschickt. Es war als Entschuldigung für sein unpassendes Benehmen gedacht, eine nicht in Worte gefasste Bitte um Vergebung. Eine kleine, aber wertvolle Gabe. Leider hatte Miss Wood sich nicht einmal die Mühe gemacht, diese Geschenke anzuschauen. Jedes der Päckchen war ungeöffnet an den Absender zurückgesandt worden.
„Sind Sie sicher, dass es ihr persönlich übergeben wurde?“, vergewisserte di Rossi sich.
„Si, Signore. Ihr Bote musste es einem der Lakaien in der
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