Venit. Die Akte Veden: Thriller (Filii Iani-Trilogie) (German Edition)
und schlug die Tür zu.
»Hey!«, empörte sich Tim und richtete sich auf die Ellbogen auf. Dabei entkam ihm die Wodkaflasche, die umfiel und davon rollte. »Ich wollte das noch hören!«
Sein Cousin ging in Richtung Treppenhaus. »Ella Berg ist keine Frau für dich, mein Lieber. Sie ist dir in mancher Hinsicht überlegen, außerdem verfügt sie über ein sprunghaftes Gemüt. Das ist, als versuche eine Schildkröte eine Beziehung mit einer Rennmaus zu führen.« Er erreichte die schwere Metalltür, die die Garage vom Treppenhaus trennte, und drehte sich noch einmal zu Tim um. »Denk bitte daran, dass du in fünf Stunden aufstehen musst. Gute Nacht, Johnny.« Und fort war er.
»Ich heiße nicht Johnny, verdammt noch mal!«, brüllte Tim hinter ihm her.
3
TAGE VORHER
Sir Caestus Veden, von seinen einzigen, bereits vor Jahren verstorbenen Freunden Margit und Hora Chest genannt, trat um sieben Uhr morgens auf den Marienplatz in München und betrachtete den prächtigen Bau des Neuen Rathauses, der unweigerlich seinen Blick anzog. Vor ihm auf dem gepflasterten Weg lag der erste Bote des Winters, der sich in Form feinster Schneeflocken niedergelassen hatte. Der Himmel über ihm war grau und tief, als wolle er den Eindruck vermitteln, die Welt bestünde lediglich aus dem bisschen Horizont, das er freigab.
Veden hob die Hand, zog an der Zigarillo, die er zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt, behielt den Rauch einen Moment in der Lunge, bevor er ihn mit einem langsamen Atemzug ausstieß.
Seine blauen Augen lagen auf einem der neugotischen Wasserspeier, der von hoch oben des Rathauses mit karikaturesk verzerrtem Gesicht und aus toten, hohlen Augen nach unten stierte. Der übermäßig große Mund war lippenlos und weit aufgerissen, die Ohren rahmten die Fratze ein. Über ihm hing der graue Himmel, ein brillanter Hintergrund, den nur die Natur bieten konnte.
Es wäre nicht nötig gewesen, über den Marienplatz zu gehen, denn von seinem Hotel aus hätte er den Hauptsitz der Filii Iani viel einfacher über kleine Nebenstraßen erreichen können, doch Veden kam so oft zum Neuen Rathaus, wie es seine Zeit erlaubte. Es bereitete ihm Vergnügen, die Fassade zu betrachten, auf der Suche nach weiteren Fratzen und Masken. Und am schönsten nahm sich diese Tätigkeit bei einem so tristen Wetter wie diesem aus.
Ansonsten interessierte ihn die Geschichte des Bauwerks nicht; ihn konnte weder der Grund für den Bau eines neuen Rathauses im 19. Jahrhundert begeistern, noch interessierte ihn, wann welche Anbauten vorgenommen worden waren oder welche Wasserspeier welcher Epoche und welchem volkstümlichen oder religiösen Hintergrund zuzuschreiben waren. Das alles waren Nebensächlichkeiten. Seine Aufmerksamkeit galt lediglich der Empfindung, die das Betrachten der Zerrbilder in ihm auslöste.
Schließlich riss er den Blick los, nahm einen letzten Zug von der Zigarillo und ließ sie zu Boden fallen. Er beobachtete, wie die Glut zischend im Schnee erlosch, wie sich das dünne Papierchen und der darin befindliche Tabakrest sowie der weiche Filter mit Nässe voll saugten, dann hob er den Blick und sah sich um. Die vielen Menschen, die an ihm vorüberliefen, hatten nichts übrig für den prächtigen Bau. Sie wirkten allesamt geschäftig und in Gedanken versunken, die Augen genauso leer wie jene der Wasserspeier. Und dennoch – sie war anders, diese Leere. Es fehlten die Leblosigkeit und die Ruhe, die mit einem steinernen Gesicht einher gingen.
Veden fing den Blick einer jungen Frau auf, die in knielangem Wintermantel und mit einer Mütze auf dem Kopf an ihm vorbeilief. Sie sah ihn an, lächelte vage, und das Rosa auf ihren Wangen, das von der Kälte hervorgerufen wurde, wurde dunkler. Er erwiderte das Lächeln und vermerkte amüsiert, wie sich das Rosa schlagartig in ein tiefdunkles Rot verwandelte. Als er sich umdrehte und in Richtung Sendlinger Tor losging, hatte er ihr Gesicht bereits vergessen, doch der Wechsel der Farben blieb ihm lebhaft in Erinnerung.
Innerhalb von fünf Minuten erreichte er den uralten Bau der Filii Iani, der mit der Stadtgründung im 12. Jahrhundert erbaut worden war. Dem Gebäude sah man das nicht mehr an, denn es war unzählige Male umgebaut, renoviert und erweitert worden. Von außen betrachtet hätte es ein neumodisches Gebäude sein können, schlicht gehalten und alles andere als auffällig – aber genau das war natürlich auch die Absicht. Nichts deutete auf das hin, was sich im Inneren
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