Venus allein zu Haus
andere Tochter ist, die mehr nach seinem Geschmack ist und straft mich mit Nichtachtung. Wieder einmal kämpfe ich mit den Tränen. Sophia legt beruhigend ihre Hand auf meine und sieht mich mitleidig an.
»Willst du denn dein Carpaccio nicht essen, Liebes«, fragt Angela mit aufgesetzter Liebenswürdigkeit.
»Nein«, sage ich und schiebe meinen Teller von mir, »nein, danke, ich bin Vegetarierin.«
So viel steht fest, eine neue Wohngelegenheit muss her, und zwar am liebsten gestern. Miesgelaunt liege ich auf dem zwei mal zwei Meter großen Gästebett mit der sündhaft teuren hellgrünen Überdecke und kraule meine Katze. Vor lauter Umzugsstress verliert die noch mehr Haare als sonst. Oh, was wird meine Stiefmutter fluchen, wenn sie dieses Zimmer wieder betritt. Bei diesem Gedanken gelingt mir sogar ein kleines schiefes Grinsen, aber eigentlich ist mir weiß Gott nicht zum Lachen zumute.
Wie konnte mein Leben so urplötzlich aus den Fugen geraten? Meine beste Freundin geht zum Traualtar, meine kleine Schwester in den Mutterschutz. Und ich? Ich gehe shoppen. Und noch nicht einmal für mich selbst. Es ist
deprimierend. Wobei mich noch mehr deprimiert, dass ich noch nicht einmal das – nämlich shoppen für andere Leute – in den letzten Tagen gemacht habe. Es wird Zeit, dass ich mich wieder an die Arbeit mache! Entschlossen greife ich nach meinem Terminkalender und dem Telefon.
»Biergarten?«
»Guten Abend, Frau Biergarten, hier spricht Helen Ramien, ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Ganz und gar nicht. Sind Sie wieder gesund?«
»Topfit. Und daher wollte ich Sie fragen, ob wir nicht einen neuen Termin vereinbaren wollen.«
»Sehr gerne.«
»Morgen?«, rutscht es mir heraus. Sehr ungeschickt. Sehr blöd. Wenn ich um acht Uhr abends einen Termin für morgen ausmache, dann bedeutet das absoluten Notstand und so was macht sich nicht gut.
»Morgen passt mir ausgezeichnet.« Sieht so aus, als sei ich nicht die einzige Frau auf der Welt, die Notstand hat.
»Großartig. Gegen elf bei Ihnen zu Hause? Dann können wir gleich Ihren Kleiderschrank durchforsten.«
»Wunderbar.« Sie klingt wie ein Kind kurz vor Weihnachten.
»Also dann bis morgen.« Zufrieden lege ich auf und fühle mich schon ein wenig besser. Die kriegen mich nicht klein! Weder der schwule Jan noch meine reizende Familie.
Kurz bevor ich einschlafe kommt Sophia noch mal an mein Bett. Will sie mir etwa »Gute Nacht« sagen, wenn das hier schon sonst keiner tut? Das ist echt nett. Sie lässt sich auf die Bettkante sinken.
»Helen, lass uns über dein Verhältnis zu deinem Vater reden.« Das hätte ich mir ja denken können. Ich will jetzt aber nicht über meinen Vater reden. Ich weiß ja, alle meine gescheiterten Beziehungen sind seine Schuld. Früher
habe ich mir mit Vorliebe verheiratete oder zumindest vergebene Männer ausgesucht. Logisch, das war natürlich die Hoffnung, einmal gegen die andere Frau (sprich Angela) zu gewinnen. Ist mir übrigens nicht ein einziges Mal gelungen. Aber was Papa jetzt damit zu tun haben soll, dass Jan plötzlich schwul geworden ist, das will mir nicht in den Kopf. »Dann denk mal drüber nach.«
Jacqueline liegt in einem grell beleuchteten Kreißsaal. Um sie herum steht meine ganze Familie, mein Vater, Angela, Paul, meine Mutter. Alle feuern sie an und sie schreit und ich schreie mit. Ich sehe in verzerrte Gesichter und frage mich, wo ich bin. Bis ich plötzlich merke, wo ich mich befinde. An einem warmen Ort, um mich her ist es ganz weich und rot, doch dann werden die Stimmen immer lauter und es ist, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Dann bekommt Jacqueline ihr Baby und mir wird klar, dass ich dieses Baby bin. Ich sehe mich um und die Gesichter über mir verziehen sich zu fürchterlichen Fratzen und mein Vater schreit:
»Seht mal, Georg ist ein Mädchen.« Und dann hallt ein Echo durch den Kreißsaal: »Georg ist ein Mädchen, ein Mädchen.«
Dann bin ich plötzlich in dem riesigen Spielzimmer von früher und durch ein Loch in der Decke fallen Spielzeugautos, Wasserpistolen und Legosteine auf mich runter und verschütten mich, bis nur noch meine Haare oben rausgucken. Ich mache den Mund auf, um zu schreien, da fährt ein Miniaturauto hinein und meine Speiseröhre herunter. Ich fange an zu würgen und zu husten und wache auf.
Vollkommen gerädert blicke ich mich um. Die Sonne scheint hell zum Fenster hinein. Wie spät ist es? Ich greife
nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Schon halb
Weitere Kostenlose Bücher