Venus allein zu Haus
wirklich gibt, und dass er in dem Moment, als er dich gesehen hat, sofort wusste, dass du für ihn bestimmt bist, das war ja sooooo süüüüß.« Ich hasse es, wenn er meine Stimme nachmacht. Als würde ich quäken wie Daisy Duck.
»Ich kann auch gehen«, zischele ich wütend, »gar kein Problem. Und Jan, den lässt du aus dem Spiel, ist das klar?«
»Schon gut. Tut mir Leid«, sagt er ein bisschen zerknirscht.
»Hmm«, brummele ich unwirsch und wende mich wieder meinem Carpaccio zu. Die ersten zweihundertfünfzig Kalorien des Abends. Dazu noch mal neunzig in meinem Weinglas und etwa vierhundertsiebzig, die in der Küche noch zubereitet werden. Das Dessert noch nicht mitgerechnet. Was hat er noch gleich für eins bestellt? Vielleicht sollte ich wirklich besser gehen, denke ich mit schlechtem Gewissen.
»Lenchen«, sagt Bernd mit plötzlich verändertem Tonfall, »hör auf damit.«
»Womit denn?«, frage ich ertappt.
»Du zählst die Kalorien auf deinem Teller. Lass das sein.«
»Tue ich gar nicht«, widerspreche ich böse. Himbeertiramisu, zweihundertfünfzig Kalorien, selbst wenn die Portion winzig ist.
»Lenchen.«
»Helen.« Klar, Sophia muss natürlich auch sofort mitreden. Dabei versuche ich hier gerade, ein tolles erstes Date zu haben.
»Was redest du denn da?«, frage ich mit einem süßen Lächeln. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Kalorie gezählt. Ich kann essen so viel ich will. Also«, sage ich mit einem schelmischen Zwinkern, als Stefan mit der vegetarischen Lasagne auftaucht, »anscheinend kennst du mich sooo gut nun auch wieder nicht.« Angesichts Bernds betroffenen Blicks beeilt sich Stefan zu sagen:
»Wie soll er denn das auch, nach einer Woche? Da gibt
es einfach noch so viel Neues am anderen zu entdecken, nicht wahr?« Er scheint sich tatsächlich für unser Wohlergehen verantwortlich zu fühlen. Und nicht nur kulinarisch gesehen. Um ihn nicht zu enttäuschen, lächle ich ihn an.
»Selbstverständlich.«
»Und manche Geheimnisse sollte man sowieso für sich behalten«, findet Stefan.
»Das finde ich auch«, sage ich und spieße vorsichtig eine hauchdünne Kohlrabischeibe mit meiner Gabel auf. Mindestens zwanzig Kalorien schwer bei all der Sahnesoße, die daran klebt. Ich lasse die Gabel über dem Teller schweben, sodass die Soße langsam von dem Gemüse heruntertropfen kann.
Neunzehn.
Ich werfe Bernd einen schnellen Blick zu, der mich besorgt ansieht. Wie schon so oft. Ich wünschte, er würde mich wirklich erst seit einer Woche kennen.
Achtzehn.
Und nicht seit fünfzehn Jahren. Nur mit fünfzig Kilo. Und nicht mit siebzig. Ich wünschte, er hätte nicht miterlebt, wie ich von der Hollywood- über die Ananas- und Brigitte- geradewegs in die Null-Diät, und dann in die Magersucht geschlittert bin.
Siebzehn.
Ich wünschte, es wäre nicht er gewesen, der mich irgendwann zur Seite genommen und gebeten hat, meine Gesundheit nicht zu ruinieren. Der mich irgendwann statt zum versprochenen Minigolfplatz zu einer Ärztin geschleppt hat. Und dann zu meiner Therapeutin.
Sechzehn.
Ich wünschte, er würde mich nicht so verdammt gut kennen, dass er mir an der Nasenspitze ansieht, wenn ich wieder diese Stimme höre, die nicht Sophia gehört. Die
namenlos ist. Und die mir sagt, dass ich endlich aufhören soll zu essen. Die mir sagt, dass ich bald wieder fett sein werde. Ungeliebt. Und die den Kalorien- und Fettgehalt jedes einzelnen gottverdammten Nahrungsmittels auf dieser Erde auswendig kennt.
Fünfzehn.
Ich lasse die Gabel sinken und greife stattdessen nach meinem Wein. In letzter Sekunde wird meine Hand zum Wasserglas umgelenkt. Ich nehme einen tiefen Schluck.
NULL! Noch einen. NULL! Null Komma null null!
»Kann ich was für dich tun?«, fragt Bernd mich leise.
»Nein danke«, sage ich und denke darüber nach, dass es nachher mit Sophia einiges durchzuarbeiten gibt. Und ich denke, dass ich vielleicht doch mal wieder zu meiner äußeren Therapeutin gehen sollte. Unglücklich schaue ich Bernd an. Er rückt seinen Stuhl zu mir rüber und nimmt mich in die Arme. Mal wieder tröstet er mich. Tröstet mich darüber hinweg, dass ich so eine verkorkste Person mit einer verkorksten Psyche und einem total verkorksten Essverhalten bin.
»Bist du jetzt wieder mein bester Freund?«, frage ich ihn leise.
»Natürlich«, sagt er seufzend. Ich löse mich von ihm und gucke ihn an.
»Dann muss ich dir unbedingt was erzählen. Du wirst nicht glauben, was ich heute für ein
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