Venusblut - Schreiner, J: Venusblut
nicht.«
»Ihr Zimmer?«
»313«
Joel schickte sich an, in das Wohnheim zu gehen, besann sich dann eines Besseren und ging die bisher zurückgelegten zwei Schritte wieder rückwärts.
»Warum ist Joline hier?«
Der Pförtner sah Joel irritiert an und versuchte sich offensichtlich an etwas zu erinnern – vielleicht an den Grund, warum er überhaupt antwortete. »Na, weil sie ständig vergisst, wer und wo sie ist.«
»Ich verstehe nicht …«
»Sie kann sich an nichts erinnern, was sie selbst betrifft. Familie, Freunde – alles auf lange Sicht futsch. Ihr Gedächtnis is’ irgendwie kaputt …« Der Mann machte eine uncharmante Geste an seiner Schläfe.
»Na, großartig!« Eine halsstarrige, junge Teufelin und ihre vergessliche Schwester – vermutlich ein Engel.
Endgültig ging Joel weiter, durch den Haupteingang und an der Information vorbei. Niemand hielt ihn auf. Es war, als hätte das Durchlassen durch den Pförtner ihm eine Freikarte erteilt.
Das Innere des Gebäudes wirkte familiär und gemütlich, die Menschen, die ihm auf dem Weg begegneten freundlich und zum großen Teil gut gelaunt. Die Betreuer waren nur an ihrem Geruch zu erkennen. Sie rochen weniger determiniert, freier.
Neugierig bemerkte der Vampir, dass einige Türen offen standen, und spähte im Vorbeigehen in einige Zimmer hinein. In einem hatte sich ein noch sehr junges Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren ein rosa Traumland erschaffen, in einem anderen wohnte ein extrem dünner junger Mann.
Zimmer 313 war bis auf Bett, Schrank und Fernseher leer. Absolut steril. Er sah sich enttäuscht um. Es gab keine Bilder, Fotos, Bücher … nichts, das überhaupt auf einen Bewohner schließen ließ. Genauso gut könnte es sich um ein unbewohntes Zimmer handeln.
»Entschuldigung!« Er winkte eine Betreuerin näher, die gerade an dem Zimmer vorüberging. »Ist dies wirklich Jolines Zimmer?«
»Ja, sind Sie ein Bekannter?« Die Matrone reichte ihm die Hand und Joel nutzte den Moment in dem sich ihre Blicke trafen, um sie zu manipulieren.
»Wohnt Joline schon lange hier?«
»Seit ungefähr einem Jahr.«
»Was ist vor einem Jahr geschehen?«
»Joline war schon lange wegen ihrer Gedächtnisprobleme in Behandlung, eine angeborene Schwäche. Es ist immer schlimmer und schlimmer geworden und schließlich konnte die Familie die Betreuung nicht mehr gewährleisten.«
»Seitdem vergisst sie?«
»Ja. Alles, was ihre persönlichen Erinnerungen betrifft.«
»Was müsste man tun, damit sie eine wichtige Information nicht vergisst?«
Die Matrone starrte Joel an, als sei dieser mindestens ebenso vergesslich wie Joline. »Sie vergisst sie … man müsste sie ihr schon auf die Stirn tätowieren.« Sie lachte gezwungen. »Sogar ihren Namen und unsere Telefonnummer trägt sie sicherheitshalber immer auf einem Armband bei sich …«
»Und ihr Zimmer? Es gibt nichts Persönliches. Nichts, was irgendwie zu einem Individuum gehört.«
»Verstörend, oder? Aber es bedeutet ihr nichts.« Die Frau senkte ihre Stimme. »Wir haben ihr Bücher gegeben, Blumen, Haustiere. Joline hat die Bücher gelesen, die Blumen gegossen und mit den Tieren gespielt. Und wenn sie am nächsten Tag weg waren, hat sie sie nicht vermisst. Und irgendwann hat sie alles fortgegeben.«
»Haben Sie die Sachen noch?«
»Die Bücher, Blumen und Haustiere?«
»Alles andere.«
»Nein, schon seit Monaten nicht mehr.«
»Verdammt!«
Die Matrone nahm Joels Fluch mit einer tadelnden Mine hin und ergänzte: »Ihr Vater hat alles abgeholt.«
»Apropos Vater: Wann hat ihr Vater Joline abgeholt?«
»Vor sechs Tagen. Sie wollte eigentlich gestern wiederkommen.«
»Hat er angerufen? Wissen Sie, wo die zwei sind?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Hat einer von beiden irgendeine Andeutung gemacht? Oder haben Sie irgendeinen Verdacht?«
»Nein.«
Die Frau zuckte mit den Achseln, als spielte Jolines Verbleib keine Rolle – solange sie nur bei ihrem Vater war.
Joel sah durch Jolines Fenster und durch das Gitter der Einfahrt nach Draußen. Wieder war die Suche eröffnet und alle Wege offen. Zu viele Wege.
Wohl oder übel würde er um Hilfe bitten müssen.
22
Hasdrubal hatte jede Veränderung in der Haltung und in den Zügen seiner geliebt-verhassten Königin beobachtet und darauf gehofft, dass ihr Traum zurückkam und er aus ihren Reaktionen Rückschlüsse würde ziehen können. Doch schon als sie ihren Mund öffnete, um erneut zu rufen, wusste er bereits, dass es dieses Mal anders war.
Beim
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