Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Chance zu geben.
Doch sie hatte ihn an sich genommen. Keine Konkurrenz.
Sie wollte die Chance für sich allein haben.
Wer verbarg sich hinter dem Zettel? Warum wandte man sich nicht nur an die Musikerinnen, deren Instrumente eine Solokarriere versprachen? Ein Ensemble, dachte sie.
Vielleicht sollte ein Ensemble zusammengestellt werden, das diese pseudoklassische Musik spielte, die im Westen populär war. Gab es da nicht einen holländischen Geiger?
Das kurze Gespräch gestern hatte ihr kaum Aufschluss gegeben. Eine leise dunkle Stimme, die sie das Ohr an den Hörer pressen ließ. Eine Zeit und ein Ort. Ohne Erklärung.
Nur, dass sie das Instrument nicht mitbringen sollte.
Kein Vorspielen. Noch nicht.
Sie näherte sich Zeit und Ort.
Ein Impresario, der erst einmal ihr Aussehen begutachten wollte, dachte sie, als sie an den geschlossenen Ladentüren des Großen Burstah entlangging. Dann hätte sie verloren.
Sicher suchten sie kein dünnes blasses Kind, das kaum verführerischer wurde, weil es die langen blonden Haare heute nicht in einem Knoten versteckte.
Vielleicht hätte sie Angst gehabt, wäre der Ort nicht ein Lokal gewesen, das sie kannte. Eine Touristenfalle, aber nie leer.
Sie würde sicher sein zwischen all denen, die einen Blick auf den Hafen erhaschen wollten.
Das Auto neben ihr fuhr zu langsam. Schritttempo. Ihr Schritt. Eine Stimme aus dem halb geöffneten Seitenfenster.
Die Stimme kannte ihren Namen.
»Steigen Sie ein«, sagte die Stimme, »wir fahren in mein Büro.«
Was dachte das dünne Mädchen mit den langen blonden. Haaren, die ihm an diesem Abend auf die Schultern fielen, als es in das Auto stieg?
An eine Karriere? Ein Konservatorium?
Irgendwann in der Nacht würde das Mädchen an die schiefe Holzveranda eines alten Hauses in Tiflis denken, auf der es in den Sommernächten mit seinem Vater gesessen und süßen Wein getrunken hatte.
Das letzte Bild, das ihm vor Augen stehen würde.
Nick war im Tiefschlaf, als das Telefon läutete. Er tastete nach dem Hörer, der dabei von der Gabel fiel, und Nick fürchtete schon, dass die Verbindung unterbrochen worden sei. Wer in dunkler Nacht angerufen wird, dem klopft das Herz, dem steigt das Adrenalin, der will wissen, wer der Anrufer ist. Leo, dachte Nick. Endlich.
Er erkannte die Stimme erst nicht. Eine Stimme, die schnell und heimlich in ein Handy zu sprechen schien. Wie kam es, dass er damit nicht gerechnet hatte?
Ich hole dich in zehn Minuten ab, hörte er Pit sagen, ich nehme an, das interessiert dich. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als Pits alter Alpha Romeo vorfuhr. »Danke«, sagte Nick, als er im Auto saß.
»Du und ich haben die gleichen Interessen«, sagte Pit, »und ich schätze es nicht, wenn man Spuren ignoriert, nur weil sie einem nicht in den Kram passen.«
Nick sah ihn an. »Erkläre mir das«, sagte er.
»Ist es dir neu, wenn ich sage, dass die vier toten Frauen Tätowierungen am Hals haben?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Du hast also auch eine starke Lupe.«
»Tut mir Leid, dass ich dich nicht darauf angesprochen habe«,
sagte Nick. »Ich hatte den Eindruck, schon zu aufdringlich gewesen zu sein. Ein paar von euch halten mich ohnehin für einen Spinner.«
»Ein paar von uns haben nicht die geringste Phantasie. Die halten die Tattoos für etwas, das man sich bei Bijoux Brigitte machen lassen kann.«
»Wohin fahren wir?«
»Stadtpark«, sagte Pit. »In die Nähe vom Planetarium. Ein Pärchen wollte sich gerade zu einem kleinen Beischlaf niederlassen, als sie sie fanden.«
»Warst du schon da?«
Pit schüttelte den Kopf. »Der Kollege von der Bereitschaft will, dass ich sie mir ansehe. Übereinstimmungen mit dem Brückenmord. Ich bummele eigentlich Überstunden ab.«
Er bog in den asphaltierten Weg ein, der zum Planetarium führte. Nick griff nach dem Gurt seiner Kameratasche, als müsse er ganz schnell abspringen, doch eigentlich wollte er sich nur ein bisschen festhalten. Es war wahrlich nicht das erste Mal, dass er auf dem Weg zu einer Leiche war, doch leichter wurde dieser Job nicht.
»Da vorne«, sagte Pit, und es war ganz unnötig, dass er das sagte, denn die Szenerie lag im Licht der Scheinwerfer.
Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, Absperrband zu spannen. Doch die meisten Leute hielten sich hinter der Absperrung auf. Davor stand nur ein Mann mit Hund.
»Irgendwann wird auch der Letzte deiner Kollegen wissen, dass ich kein Polizeifotograf bin«, sagte Nick.
»Ist dem Tross doch völlig
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