Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
alte Anni fest in die Arme nahm. »Du wolltest doch immer eine Familie hier haben«, sagte Vera, »eine bessere, als Nelly und Gustav und ich es gewesen sind.«
»Eine bessere als Gustav und du kann es gar nicht geben.«
»Gustav ist seit achtzehn Jahren tot«, sagte Vera, »und nun kommt Jef zu uns, und vielleicht wird sie ja auch noch größer, die Familie. Kinder. Hunde. Katzen.«
»Am liebsten hätte ich ja einen Kanarienvogel«, sagte Anni und grinste. »Ist schon gut. Lass deinen Jef kommen. Er soll was Gutes zu essen kriegen.« Sie griff nach der Pfanne und ließ die goldbraunen Toasts Melba auf die Teller gleiten und nahm sich vor, ihre Ängste künftig für sich zu behalten.
Jef hatte angefangen, an sein Glück zu glauben. Er vertraute Vera, wie er bisher nur einem einzigen anderen Menschen vertraut hatte, und der war in Nieuwpoort ins Meer gegangen.
Jef Diem war ganz und gar nicht bereit, das Glück mit Vera zu gefährden und sich in ein schmutziges Geschäft hineinziehen zu lassen. Doch vielleicht war es voreilig gewesen, seinem Chef genau das zu verkünden. Er hätte die drei Affen geben sollen. Nichts gehört. Nichts gesehen. Nichts zu sagen.
Er war einfach zu naiv. Was hatte er denn geglaubt, wer sich da vorgestern Abend versammelte?
Er hatte doch nur deshalb an diesem Abend am Klavier gesessen, weil einige der Herren nach dem geschäftlichen Teil gern sentimental wurden. Dann soffen sie und wollten Love Me Tender hören oder Stardust. Darum hatte sein Chef ihn aufgefordert, sich bereit zu halten.
Was hätte er denn tun sollen, als die zwei Herren vor lauter Love Me Tender tränenschwer am Steinway hingen und ihn in ihr Geschäft einzuweihen versuchten, als sei das als Trinkgeld für den Pianisten gedacht? Er hatte hilflos gelächelt und so getan, als verstünde er nichts von dem, was sie sagten. Oder eher lallten. Doch es war nicht unbemerkt geblieben. Hatte Jef darüber noch hoffnungsvolle Zweifel gehabt, waren sie heute Vormittag zerstreut worden.
Der Chef und er hatten sich in dem kleinen Büro hinter der Bar gegenübergesessen. Eichengetäfelt. Ledersessel.
Er war gerührt gewesen, als er vor einigen Wochen dort gesessen hatte und engagiert worden war. Die durable Eleganz. Fast schon ein Klischee. Doch heute Vormittag erinnerte ihn die Szene an einen Gangsterfilm der dreißiger Jahre. Edward G. Robinson vielleicht. Ging es darin auch schon um Drogen und Prostitution oder nur um Schnaps und Prostitution?
Jef goss sich einen Johnny Walker ein. Den Malt Whisky hatte Vera gestern ausgetrunken. Ihr gefiel der Arzneigeschmack des Laphraoig. Alle anderen waren ihr zu gefällig. Jef nahm einen großen Schluck vom gefälligen Johnny Walker.
Natürlich hatte sie gemerkt, dass er nicht konzentriert war. Kaum zuhörte. Schlecht Klavier spielte.
Doch er durfte ihr nichts sagen. Das gefährdete Vera nur. Schlimm genug, dass er da drinsteckte.
Er war zum Schweigen angehalten worden. Angehalten?
Ein zu harmloses Wort für die Drohung, die dahinter stand.
Davongehen. Den Job wechseln. Wieder einmal jäh beenden, was er gerade begonnen hatte.
Ein Versager, der floh und nicht standhielt.
Drüben auf dem Balkon pflanzte die Frau rote Geranien. War es nicht zu früh für Geranien? Er erinnerte sich, dass seine Mutter sie immer erst spät im Mai gepflanzt hatte.
Vielleicht war alles einfach. Vielleicht brauchte er wirklich nur zu schweigen. Den Ahnungslosen geben. Nie ein einziges Wort verlieren. Vielleicht ließen sie ihn dann in Frieden.
Er hatte Sehnsucht nach Geranien. Einem friedlichen Leben.
Es war doch zum Greifen nah.
Leo war da gewesen und hatte Nick ihr Klatschblatt unter die Nase gehalten und ihm die Doppelseite ›Drama im Leben der Pamela Anderson‹ präsentiert. Dafür wurde spätabends ein Heft umgeworfen? Nick hatte gestaunt und geschwiegen.
Nur nicht die Stimmung verderben. Lieber die Gin Tonics auf den Tisch stellen. Leo liebte Gin Tonic.
Liebte sie ihn noch? Nick hatte gehofft, das zur Sprache zu bringen. Waren es sonst nicht die Frauen, die das Gespräch suchten? Leo und er waren auf quälende Art atypisch.
Doch sie hatte nicht viel Zeit gehabt. Vernissage? Konzert? Ein Empfang im großen Ballsaal des Atlantic? Wurde überhaupt was gesagt darüber oder war auf einmal lediglich die Aura der Wichtigkeit durch seine Küche gewabert?
Vera bekam Leo auch kaum noch zu Gesicht. Vielleicht lag das ja auch an Vera. Sie zumindest war bereit, in ihre Liebe alle Zeit zu investieren. Er
Weitere Kostenlose Bücher