Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
existieren Jef und ich nur in diesen Liedern.
Am Nachmittag hatte sie ihm das erste Mal von den Morden erzählt. Von den Tätowierungen. DIE MOND.
Doch sie war sich nicht einmal sicher, ob Jef wirklich zugehört hatte. Zu weit weg war sein Blick gewesen, als er sie ansah.
Vertrau mir doch, hätte sie gern gesungen. Dutzende Lieder, die genau das besangen. Ihr fiel nicht eines ein.
Vera verbeugte sich in den Applaus hinein. Lang und herzlich war er, wie an allen anderen Abenden. Jef lächelte.
Kriegst deine Tage, Verakind, sagte Anni immer, dann hörst du die Grütze zittern. Die Zeiten waren lange vorbei, in denen Anni auf die Tage von Verakind hoffte, damit Vera nicht als ledige Schwangere da stand. Jetzt sehnte sie sich danach, dass Vera doch noch die Kurve kriegte und der guten alten Anni ein Kind schenkte. Ein neues kleines Kind.
Jef spielte die ersten Klänge eines Liedes, das sie nicht gleich erkannte. Ihr Auftritt war ohnehin vorbei. Vera ging zur Bar und nahm das Glas Laphroaig, das dort für sie bereitstand. Es wurde Zeit, dass sie Jef nach Hause brachte. Zu Anni und den anderen. Diesmal war es ihr Ernst.
Da fiel ihm diese Klavierstimme aus dem Stapel Noten, die er in dem alten Bücherschrank verwahrte. Nach all den Jahren. Philip Perak hatte nicht geahnt, dass sie noch vorhanden war. In seiner Erinnerung verbrannte sie im Kamin, in dem großen Kamin in der Halle des schrecklichen Hauses, das er mit seiner Mutter bewohnt hatte.
Strengte er sich nur genügend an, dann hörte er das Knistern der Flammen und sah, wie sich das Papier krümmte und das Feuer die Noten fraß und den Namen des Komponisten tilgte. Hoagy Carmichael. Ein Mann, der die Freiheit gehabt hatte, zu komponieren und zu spielen, was er wollte. Dem keiner die Klavierstimme ins Kaminfeuer warf, oder hatte Ola Perak nur gedroht, das zu tun? Lägen die Noten sonst vor ihm?
Er war sechzehn Jahre alt gewesen, als er die Noten kaufte. In der Zeit der kleinen Freiheiten. Seine Mutter hatte sich zur Kur in Abano aufgehalten, und ihre alte Freundin, die ihn in diesen Wochen aufnahm, hatte ihn nicht auf Schritt und Tritt verfolgt, auch wenn das Ola Perak von ihr erwartete.
Bei einem seiner Streifzüge hatte er Vic kennen gelernt, einen Jungen, der kaum älter war als er damals.
Philip Perak stöhnte. Er hatte Vic bewältigt und vergessen geglaubt. Warum erinnerte er sich jetzt so deutlich daran, dass es ihn gegeben hatte? Eine quälende Erinnerung.
War Vic von der Steintreppe gefallen, die zu ihrem Haus führte? Hatte seine Mutter ihn gestoßen? Auch hier war er sich seiner Erinnerung nicht sicher. Doch Vic war nie mehr zu ihnen gekommen. Das wusste er.
Vic hatte ihn auf dieses Lied aufmerksam gemacht, mit ihm die Noten gekauft. Ein viel gespieltes Lied. Doch wie hätte er es kennen sollen? Seine Mutter hielt solche Klänge von ihm fern. Musik für Dienstmädchen, hatte sie gesagt und war mit ihren kleinen Füßen auf den Noten herumgetreten.
Vor Philip Peraks Augen taten sich tanzende Füße auf.
Kleine Füße in krokodilledernen Schuhen, die alles zertraten. In einem heftigen Stakkato. Er schüttelte sich.
Billige Gefühle, hatte seine Mutter gesagt. Philip Perak ging zu dem Bösendorfer und stellte die Noten hin. Er spielte die ersten Takte von Stardust und hörte gleich wieder auf.
Er brachte es nicht fertig, das zu spielen. Vics und sein Lied. Vic war der erste Mensch in seinem Leben gewesen, der ihm Zärtlichkeit entgegengebracht hatte. Dem er Zärtlichkeit entgegenbringen konnte. Vorher hatte es nur die persische Katze gegeben.
Stardust. Seine widerspenstige Nachbarin ließe sich sicher mit diesem Lied zähmen. Das war doch ihre Musik.
Philip Perak kaute, als habe er ein zähes Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Doch er kaute ins Leere. Nur die Zähne schlugen aufeinander. Er schob die Klavierbank nach hinten, stand auf und nahm die Noten.
Perak ging zu dem Bücherschrank aus schwarzer Mooreiche und öffnete die Glastür, schob die dünnen Notenblätter unter den dicken Stapel. Obenauf lag nun Carl Maria von Webers Andante con Variazione. Ein Stück für vier Hände.
Philip Perak entspannte sich erst, als er in die Küche ging, einen schwarzen Koffer aus Kunststoff auf die weiß lackierte Anrichte legte und den Deckel hob. Silberglänzender Stahl. Ein Strahl der späten Vormittagssonne fing sich darin.
Perak strich über Zangen und Schraubenzieher und hatte keine Ahnung, ob sie ihm tatsächlich von Nutzen sein konnten. Doch
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