Verarschung
habe das Schachspiel mitgebracht.»
Salamander machte große Augen. Sämtliche Spiele und Logikrätsel hatten in dem Moment aufgehört, in dem das Cowgirl-Video auf der offiziellen Webseite der Polizei und auf YouTube aufgetaucht war. Und sie waren auch nicht wieder aufgenommen worden, nachdem sie das Video von der Webseite gelöscht hatte.
«Möchten Sie eine Partie spielen?», fragte Bubbles.
«Okay.»
Wie immer spielte Salamander mit Schwarz. Die ersten Züge der Partie waren eintönig, doch sie nahm eine interessante Wendung, als sich Salamander für die Nimzo-Indische Verteidigung entschied.
Eigenartig. Warum hat sie kein Benkö-Gambit gemacht?
Zu Bubbles’ Unmut begann Salamander zwischen den Zügen Twinkies zu essen. Sie schien sie ungekaut am Stück hinunterzuschlingen.
«Das lenkt ziemlich ab.»
Salamander antwortete nicht. Sie hatte den Mund voll.
«Essen Sie noch etwas anderes außer Twinkies?»
«Pizza.»
Sie deutete auf einen Stapel Big-Bill’s-Pizzakartons in einer Ecke ihrer Zelle.
«Nicht gerade eine gesunde Ernährung.»
«Ich habe einen schnellen Stoffwechsel. Und trainiere sehr viel.» Sie schob den Ärmel ihres schwarzen T-Shirts über die Schulter und ließ bedrohlich ihren Bizeps spielen. Vor dem 50-Zoll-Bang-&-Olufsen-Flatscreen, den sie sich in die Zelle bestellt hatte, stand ein Precor-EFX-5.37-Crosstrainer.
«Trainieren hilft auch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Blutzuckerspiegel und Ihre Fettwerte bestimmen lassen?»
«Ist doch egal.»
«Nein, das ist nicht egal, Fröken Salamander. Sie werden bald dreißig. Sie dürfen Ihren Körper nicht weiter so missbrauchen, als wären sie immer noch ein Kind in einer Zwangsjacke.»
Salamander starrte finster vor sich hin; offensichtlich nervte sie die Tatsache, dass Bubbles über ihren bevorstehenden Geburtstag Bescheid wusste.
«Und wissen Sie noch etwas?», sagte Bubbles.
Salamander sagte nichts. Bubbles quittierte ihr Schweigen geduldig und mit verschränkten Armen. Schließlich sah sie auf. «Was denn, Bulle?»
«Ich habe in Ihrer Akte gelesen, dass eine Menge Leute glauben – sogar intelligente Leute –, dass Sie das Asperger-Syndrom haben. Aber ich glaube das nicht.»
«Nein?»
«Nein. Erstens wird Asperger im neuen DSM-Handbuch psychischer Störungen nicht mehr als eigenständige Störung aufgeführt. Es wird dem Autismus zugeschlagen, ist nicht anderweitig spezifiziert. Aber das ist nicht das Wichtigste. Die Leute halten Sie für autistisch, weil Sie Probleme damit haben, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, und in der Lage sind, im Kopf vierstellige Zahlen zu multiplizieren. Aber das sind nur einzelne Aspekte des Autismus. Autisten haben Schwierigkeiten, menschliches Verhalten zu bewerten; sie verstehen die Seelenzustände von anderen nicht. Das trifft auf Sie überhaupt nicht zu. Im Gegenteil. Sie sind sogar bemerkenswert scharfsinnig und einfühlsam im Umgang mit anderen. Sie wissen ganz genau, was in den Köpfen der Leute um Sie herum vorgeht, und Sie können mit verblüffender Genauigkeit voraussagen, wie jemand reagieren wird. Und Ihr strategisches Denken ist überragend.»
«Ist das wahr?»
«Das ist es. Ihr Problem, Fröken Salamander, ist nicht angeboren, es ist entwicklungspsychologisch zu erklären. Sie sind wie ein Wolfskind, wie Kaspar Hauser oder der Wilde von Aveyron. Sie wurden in Ihrer frühen Kindheit traumatisiert, und als Folge davon wurden Sie zu einem extrem verschlossenen Menschen, der niemanden an sich heranlässt. Ihre Vorsicht war eine vollkommen vernünftige Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in Ihrer Kindheit. Jetzt aber wissen Sie nicht, wie Sie diese Abwehrstrategie beenden können. Sie kennen sich nur damit aus, Leute auf Abstand zu halten. Sogar Leute, die es gut mit Ihnen meinen.»
«Hören Sie mit der Psychologisiererei auf, Bulle.»
«Ich will Sie nicht analysieren, Fröken Salamander. Ich wollte nur sagen, dass ich glaube, Sie zu verstehen. Ich hatte auch nicht gerade die glücklichste Kindheit. Es stimmt, ich habe nie mit angesehen, wie meine Mutter bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt wurde, meine Geschwister haben mich nie lebendig begraben, und ich habe nie jemanden aus meiner unmittelbaren Familie angezündet. Dafür wurde ich aber unter großen Druck gesetzt, Medizin zu studieren, obwohl ich keinerlei Interesse daran hatte, Arzt zu werden. Ich weiß also, dass diese Verletzungen aus der frühen Kindheit fürs ganze Leben
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