Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
Gegenwehr. Stattdessen ließ ich meinen Mund zu seiner Kehle wandern
und presste ihn auf seine Halsschlagader, ich spürte seinen schnellen Puls
gegen meine Lippen, und als Rasmus leise seufzte, ließ das mein Blut so laut in
meinen Ohren rauschen, dass ich das Klicken fast überhörte.
Das
Klicken der Handschellen.
Rasmus
machte einen Schritt nach hinten.
Ein
paar Herzschläge lang war es totenstill. Ich starrte Rasmus an, und er starrte
zurück aus geweiteten, beinahe schwarzen Augen. Als ich den Blick senkte,
konnte ich sehen, dass seine Finger bebten. Ich stieß die angehaltene Atemluft
aus, in einem zittrigen, erschrockenen kleinen Stöhnen, und sofort war Rasmus
wieder bei mir, hielt mit beiden Händen meinen Nacken und drückte seine Stirn
gegen meine.
„Es
tut mir leid“, sagte er so leise, dass es fast im Geräusch des einsetzenden
Regens unterging, „aber ich kann nicht anders. Ich kann das nicht noch einmal
mitmachen, verstehst du, dir beim Sterben zusehen aus purem Egoismus und in der
Hoffnung, dass doch alles gutgehen könnte. Bitte verzeih mir, Lily.“ Ohne sich
von mir zu lösen tastete er nach dem Saum meiner Jacke und zog den
Zippverschluss bis oben hin zu, als wäre ich ein kleines Kind. „Ich bin gleich
zurück, okay? Es dauert wirklich nicht lange, und dir wird nichts passieren.
Ich verspreche es.“ Seine Finger strichen noch einmal kurz über meine Wange,
und er steckte eine lose Haarsträhne hinter meinem Ohr fest. Danach drehte er
sich um und verschwand mit schnellen Schritten aus der Höhle und somit aus
meinem Blickfeld. Zuerst hörte ich noch seine Fußtritte auf dem Fels und ab und
zu einen losen Gesteinsbrocken, der mit leisem Poltern davonrollte; doch bald
vernahm ich nur noch das Rauschen des Regens.
Ich
verharrte in derselben Position, die Fäuste hinter dem Rücken geballt, während
die fiebrige Hitze allmählich aus meinen Wangen wich. Dann stürzte ich abrupt
auf den Höhlenausgang zu und zerrte dabei die Ketten hinter mir her, so weit es
ging – was kaum mehr als ein Meter war und nicht ausreichte, um nach draußen zu
sehen. Mit angehaltenem Atem konzentrierte ich mich wieder auf die Geräusche
vor der Höhle, aber da waren keine Schritte, kein Rasmus, der es sich noch
einmal anders überlegt hatte und zu mir zurückkehrte. Stattdessen ertönte nach
einer Weile ein nervtötendes Platschen, als sich der Regen irgendwie einen Weg
durch die Felsdecke gebahnt hatte. Wahrscheinlich hatte sich hier durch frühere
Niederschläge bereits eine riesige Pfütze gebildet. Wahrscheinlich würde sich
irgendwann die ganze Höhle mit Wasser füllen, und ich würde elendiglich
ertrinken, und dann würde Rasmus einsehen müssen, dass ich nirgendwo vor
meinem Pech gefeit war. Wahrscheinlich … war ich gerade dabei, den Verstand zu
verlieren.
Beim
nächsten verfluchten Pitsch ächzte ich gequält und ließ mich schräg an
der Felswand hinabgleiten. Und ächzte erneut. Die Riesenpfütze war näher, als
ich vermutet hatte – tatsächlich hatte ich mich direkt hineingesetzt. Das
Wasser war eisig. Ich stützte mich auf dem überfluteten Boden ab, um wieder auf
die Beine zu kommen, und bemerkte dabei, dass die Kälte den Schmerz an meinen
geschundenen Handgelenken ein wenig linderte. Schwerfällig rutschte ich ein
Stück zur Seite, damit das Wasser mir nicht mehr in die Schuhe lief, und
tauchte beide Hände in die Pfütze. Bald spürte ich, wie die Schwellung
zurückging – und noch etwas. Vorsichtig drehte ich erst den einen, dann den
anderen Arm, um mich davon zu überzeugen, dass … ja, die Handschellen saßen
ganz locker. Rasmus hatte sie viel weniger eng eingestellt als meine Entführer,
und nun, da meine Gelenke durch die Kühlung wieder auf ihre normale Dicke
zusammengeschrumpft waren … noch eine langsame Drehung, ein kleiner Ruck, und
ich war frei.
Ich
starrte auf meine Hände, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen; dann ging
ich steifbeinig auf die Höhlenöffnung zu und spähte nach draußen. Nachdem ich
es vorhin kaum hatte erwarten können, den Abstieg zu beginnen, zog sich mein
Magen nun schon bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Vielleicht traf
Rasmus‘ Einschätzung zu, und ich konnte die Felsplattform unmöglich alleine
verlassen, ohne mir den Hals zu brechen: Schließlich hatte er mir vorhin einen
sicheren Weg gezeigt, und trotzdem war es mir gelungen, eine brüchige Stelle zu
finden und auch noch mit voller Wucht draufzutreten. Ich schauderte, als
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