Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
meine
Augen den Teil des Stegs fanden, wo nur wenige Minuten zuvor ein großer
Gesteinsbrocken unter meinen Füßen nachgegeben hatte und im Nichts verschwunden
war. Beklommen fragte ich mich, ob ich es wohl meiner Ungeschicklichkeit oder
doch meinem erstaunlichen Pech zu verdanken hatte, dass ich selbst diesem
Schicksal nur knapp entronnen war. Was auch immer der Grund für meinen Unfall
gewesen sein mochte, es lief jedenfalls auf dieselbe Tatsache hinaus: Das
hier war keine gute Idee.
Andererseits
… Ich drehte mich halb zu der Höhlenwand um, an der die Fesseln hingen, und
vergrub die Hände in meinen Jackentaschen. Andererseits konnte ich mir überhaupt
nicht vorstellen, noch länger hier herumzusitzen und zuzulassen, wie sich
Rasmus womöglich mit mehreren Verbrechern anlegte, nur um mich zu beschützen.
Mein Instinkt sagte mir, dass er es wohl kaum dabei belassen würde, den Pfad
hinunterzuklettern, Hilfe zu rufen und dann gleich zu mir zurückzukehren.
Wahrscheinlich würde er dort unten auch nach den Entführern suchen, während er
auf die Polizei wartete … vielleicht würde er die Typen sogar absichtlich auf
sich aufmerksam machen, und was dann? Er verließ sich darauf, dass ihm niemand
etwas anhaben konnte, aber wenn sie zu mehrt waren, würden sie ihn
möglicherweise überwältigen und ebenfalls fesseln. Schließlich war er noch
geschwächt vom Jahrestag …
Ohne
es zu bemerken hatte ich die Höhle verlassen und einige Schritte auf die Plattform
hinaus gemacht; ich wurde mir erst dessen bewusst, als der Regen in einem
eisigen Rinnsal durch meine Haare und in meinen Kragen floss. Wenn ich ehrlich
war, hatte ich die Entscheidung längst getroffen: Ich musste so schnell wie
möglich zu Rasmus hinunter und ihn davon abhalten, etwas Engelhaft-Waghalsiges
und potentiell Bescheuertes anzustellen. Vorsichtig schob ich einen Fuß auf den
Steg und zog dann den anderen nach, sorgfältig darauf bedacht, nicht in die
Nähe des Abgrunds zu geraten, wo der Boden dünner war. Der Fels fühlte sich
unter den Sohlen meiner Turnschuhe glitschig an. Aus Furcht davor,
auszurutschen, ging ich in die Knie und kroch auf allen Vieren weiter. Meine
aufgeschürften Handflächen brannten, als ich sie über den rauen Untergrund wandern
ließ, aber dafür konnte ich so jeden losen Stein ertasten und mich viel
sicherer fortbewegen. Bald waren die Hosenbeine meiner Jeans steif vor Nässe
und Schmutz, und meine Zähne begannen zu klappern, doch ich ließ mich davon
nicht beirren. Stattdessen starrte ich verbissen auf den Boden und sagte mir in
Gedanken jeden Schritt vor – bis ich tatsächlich den Pfad erreicht hatte.
Ungläubig
schaute ich zu dem grässlichen Felsvorsprung zurück, den ich entlanggekrochen
war. Zwar lag immer noch eine ganz schöne Kletterpartie vor mir, aber nun, da
ich die erste Hürde bewältigt hatte, machte meine Furcht einer absurden
Hochstimmung Platz. Meine freudige Aufregung verstärkte sich noch, als nur
wenige Meter von mir entfernt ein Geräusch die Stille durchbrach – konnte es
sein, dass ich Rasmus eingeholt hatte? Oder war er schon wieder auf dem Rückweg
zu mir? Ich rappelte mich auf und blickte konzentriert in die Finsternis vor
mir. Dann, nach und nach, verflüchtigte sich meine Begeisterung, und ich spürte
ein Kribbeln im Nacken, als sich dort die feinen Härchen aufrichteten. Mit
einem Mal erfasste mich die merkwürdige Gewissheit, dass es nicht Rasmus war,
der sich näherte – Rasmus bewegte sich immer mit einer raubkatzenhaften
Geschicklichkeit, sei es beim Basketballspiel oder auf dem Schulflur, und
selbst hier auf dem unebenen Boden hatten seine Schritte ruhig und gleichmäßig
geklungen. Wer gerade auf dem Weg hierher war, schien um einen lautlosen Gang
bemüht, denn sekundenlang konnte ich ihn nicht mehr hören; danach überkam ihn
offenbar doch die Eile, und seine beschleunigten Fußtritte klangen umso lauter
auf dem Geröll.
Mein
Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, als ich herumfuhr und mich auf die Knie
warf, um wieder über den Steg auf die Plattform zurückzukriechen, doch es ging
nicht, ich zog und zerrte, bis ich begriff, dass mich jemand von hinten an
meiner Jacke festhielt. Ich konnte gerade noch meinen Mund zu einem Schrei
öffnen, bevor sich eine Hand darüberlegte. Da klappte ich meine Kiefer wieder
zusammen und biss zu.
„Au!“,
erklang es leise direkt neben meinem Ohr. „Hey, Lily, ich bin es nur!“
Ich
riss meinen Kopf los, drehte mich um und blickte in ein
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