Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
Aufregung ist das eigentlich auch
kein Wunder. Geh am besten zur Schulärztin, ich gebe Professor Scott Bescheid.“
„Danke“,
flüsterte ich und huschte – schwere Krankheit hin oder her – so schnell wie
möglich die Treppen hinauf und in Richtung Sekretariat. Die Schulärztin empfing
mich wie eine alte Bekannte, verabreichte mir nach meiner vagen
Symptombeschreibung ein paar homöopathische Tropfen und gestattete mir, mich
auf der Behandlungsliege auszuruhen. Ich döste vor Erschöpfung weg und wurde
erst wieder wach, als die Pausenglocke schrillte.
Die
Ärztin musterte mich besorgt. „Und, wie geht es dir jetzt? Wenn deine Eltern
nicht da sind, kann ich dich ja eigentlich nicht nach Hause schicken“, meinte
sie unschlüssig.
„Ist
auch nicht notwendig“, antwortete ich und stand auf. „Ich fühle mich schon wieder
wie neu. War vielleicht nur der Schlafmangel.“
Um
nicht Professor Grabowskis Zorn wegen Zuspätkommens zu riskieren, machte ich
mich eilig auf den Weg zu den Schließfächern. Die letzten Meter legte ich fast
im Laufschritt zurück, schlitterte um die Ecke und stoppte gerade noch
rechtzeitig, als ein kräftiger Oberkörper vor meinen Augen auftauchte. „Lily“,
sagte jemand überrascht. Erschrocken sprang ich einen Schritt zurück und hob
den Kopf – es war Sam.
„Alles
in Ordnung? Jinxy hat mir erzählt, was bei dir zu Hause passiert ist … Du
siehst nicht gut aus. Ich – ich meine, du siehst mitgenommen aus“, stammelte
er.
„Schon
okay, ich werde das verkraften“, antwortete ich und zwang mich zu einem
tapferen Lächeln. Sam erwiderte es nicht; er trat unbeholfen von einem Bein auf
das andere, und schließlich brach es aus ihm hervor:
„Entschuldige
bitte, dass ich mich gestern so blöd benommen habe. Du hast ja Recht, es ist
deine Sache, mit wem du befreundet bist … das geht mich nichts an.“
Ich
schaute in sein freundliches, offenes Gesicht und fühlte mich gleich noch ein
bisschen elender bei dem Gedanken, dass es irgendwie nie die ehrlichen und
gutmütigen Jungen waren, denen die Mädchen verfielen. Es waren die Dunklen,
Verschlagenen, die mit den unwiderstehlichen schmalen … Ich schüttelte mich,
als könnte ich dadurch die quälenden Überlegungen aus meinem Kopf schleudern.
„Du
musst dich nicht entschuldigen“, antwortete ich niedergeschlagen. „Was du
gesagt hast, war absolut richtig. Er ist kein Typ für eine Freundschaft, er ist
überhaupt nicht …“ Ich spürte, wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen,
und drehte mich mit den hastigen Worten „Ich hab jetzt gleich Latein“ zu meinem
Spind. Es fehlte gerade noch, dass Eric und ein paar seiner Freunde, die gerade
den Flur entlangkamen, mich heulen sahen.
Die
Lateinstunde verbrachte ich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft, und
ausnahmsweise hatte Professor Grabowski nichts damit zu tun. Jedes Mal, wenn
ich vor der Tür zum Klassenzimmer ein Geräusch zu hören glaubte, zuckte ich
zusammen – ich hätte gar nicht genau sagen können, wovor ich mich fürchtete,
trotzdem bekam ich fast einen Herzinfarkt, als gegen Ende der Stunde eine
stattliche Lehrerin mit kurzem grauem Haar und Hornbrille hereinkam.
„Entschuldigen
Sie die Störung“, sagte sie knapp zu Professor Grabowski, die etwas irritiert
davon abließ, irgendein Gedicht im Hexameter vorzutragen. „Es geht um den
diesjährigen Herbstball, der in drei Wochen stattfinden soll. Das Komitee hat
sich endlich auf ein Motto geeinigt, das ich Ihnen hiermit verkünden möchte:
Mythen und Fabelwesen.“
Gemurmel
erhob sich in den Bankreihen, bis Jinxy die Hand in die Luft streckte und
sofort fragte: „Was genau soll das bedeuten?“
Die
Professorin räusperte sich. „Es bedeutet, dass es Ihnen frei steht, ob Sie in
Abendgarderobe erscheinen möchten oder aber verkleidet als … Fee oder Troll
oder weiß der Himmel was noch.“ Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie es für
eine Zumutung hielt, Worte wie „Troll“ überhaupt in den Mund nehmen zu müssen.
„Die Anfertigung der entsprechenden Dekoration beginnt heute Nachmittag. Wer
sich dafür dem Komitee anschließen möchte, ist herzlich eingeladen, sich nach
Unterrichtsschluss im Zeichensaal einzufinden.“ Mit etwas, das wie eine kleine
Verbeugung aussah, beendete die grauhaarige Lehrerin ihre Ankündigung und
verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Professor Grabowski fuhr mit ihrer
leiernden Gedichtrezitation fort, und Jinxy piekte mich mit einem
Kugelschreiber
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