Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
doch normalerweise
völlig kalt. Jetzt wirkte er allerdings, als bereitete ihm der Gedanke an eine
schlechte Note Übelkeit, und anstatt wie gewöhnlich auf seinem Block
herumzukritzeln, hatte er seine Hände um die Tischkante verkrampft. (Natürlich
konnte man trotz allem nicht behaupten, dass er schlecht aussah – aber
immerhin wie ein Katalogmodell, das seit vier Tagen nicht mehr geschlafen
hatte.)
Professor
Scott schien das jedoch nicht zu bemerken. Grausam ließ er das peinliche
Schweigen noch einen Moment lang wirken, dann hakte er nach: „Hätten Sie
vielleicht die Güte, uns mitzuteilen, was am Ende des Stückes passiert?“
„Ich
rate einfach mal ins Blaue hinein“, ließ sich Rasmus endlich vernehmen, und
obwohl er sich offensichtlich um einen trockenen Tonfall bemühte, klang es, als
bereitete ihm jedes Wort große Anstrengung. „Ein paar Hochzeiten oder
Todesfälle? Shakespeare war ja in dieser Hinsicht nicht sonderlich originell.”
Verwirrtes
Gemurmel erhob sich, und fast alle Köpfe wandten sich nun in Rasmus‘ Richtung.
Professor Scott war über das plötzliche Versagen seines Lieblingsschülers so
verblüfft, dass es ihm nicht einmal gelang, eine seiner typischen polternden
Strafpredigten zu halten. Stattdessen klappte er bloß ein paarmal stumm den Mund
auf und zu, dann marschierte er zum Lehrerpult und machte sich irgendeine
Notiz. Die Pausenglocke rettete ihn schließlich aus seiner Verlegenheit, und
ein Schüler nach dem anderen riss sich von Rasmus‘ Anblick los, um sich auf den
Weg zum nächsten Klassenraum zu machen. Auch ich hatte keine Lust, mich bei
Grabowski zu verspäten; doch während die Lateinlehrerin ein paar schlechtere
Schüler Vokabeln abfragte, hatte ich genügend Zeit, um mir über Rasmus‘
sonderbare Reaktion den Kopf zu zerbrechen. Es war nun wirklich nicht so, als
ob er normalerweise um die Gunst der Lehrer zu buhlen pflegte (na ja, so wie
ich es vielleicht hin und wieder tat), aber zumindest verhielt er sich für
gewöhnlich unauffällig. Von seinen Trainingsstunden natürlich abgesehen – und
eigentlich auch vom Englischkurs, in dem er Professor Scott seit seinem Hamlet -Aufsatz
immer wieder mit ausgezeichneten Literaturkenntnissen begeistert hatte. Wieso
also diese patzige Antwort auf eine relativ einfache Frage? Was hatte er denn
getrieben, während wir anderen den letzten Akt des Stückes gelesen hatten …?
Okay,
ich machte mir eindeutig zu viele Gedanken über diesen kleinen Zwischenfall.
Beinahe konnte ich Jinxy hören, wie sie mich genervt wegen meiner Grübeleien
zurechtwies. Als ich ihr eröffnet hatte, dass ich nichts mehr mit Rasmus zu tun
haben wollte, war sie sofort dazu bereit gewesen, mir dabei den Rücken zu
stärken – wenn auch aus den falschen Gründen. Irgendwie hatte ich es einfach
nicht über mich gebracht, ihr von Rasmus‘ Feigheit zu erzählen; stattdessen
hatte ich behauptet, er hätte unerhört schroff darauf reagiert, dass er am
Abend des Überfalls von mir versetzt worden war. Dass ich mich nun trotz dieser
angeblichen Kränkung um seine schulischen Leistungen sorgte, hätte Jinxy wohl mit
den Worten kommentiert: „Ehrlich mal, Lily – es ging doch nur um ein ödes Theaterstück ,für das sich Mr Beleidigte-Leberwurst eben nicht begeistern konnte. Wen
interessiert’s?“ Mich jedenfalls nicht mehr.
Mein
Desinteresse an Rasmus‘ Verhalten hielt während der Geographie- und der
Geschichtsstunde an, und der Sportkurs bereitete mir gleich zu Beginn genügend
Schwierigkeiten, sodass ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte: Wie
in den letzten Tagen stand ich vor dem Problem, jemanden zu finden, der statt
Jinxy die Partnerübungen mit mir machen wollte. Bisher hatte ich die
Freiwilligen nach jeweils einer einzigen Stunde endgültig vergrault, und die
Mitschülerin, die mir Coach Svensson endlich für die heutige Einheit zuteilte,
starrte mich unentwegt misstrauisch an. Es stellte sich heraus, dass sie mit
ihren dunklen Vorahnungen gar nicht so falsch lag: Diesmal stand Bodenturnen
auf dem Programm, und als ich versuchte, meine Partnerin bei einem Handstand zu
sichern, stolperte ich und warf sie ziemlich unsanft auf die Matte. Damit nicht
genug, rammte ich ihr wenig später beim Radschlagen auch noch den Fuß ins
Gesicht. Daraufhin bat sie Coach Svensson eilig um Erlaubnis, die Toilette
aufsuchen zu dürfen, und blieb für den Rest der Stunde verschwunden. Ich räumte
bereitwillig das Feld und setzte mich an den Rand
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