Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
immerhin hob er kurz die Hand und machte
Anstalten, zu mir herüberzukommen. Hastig neigte ich den Kopf und tat so, als
müsste ich etwas unglaublich Wichtiges aus meiner Umhängetasche hervorkramen.
Gleichzeitig hielt ich an meinen Haarsträhnen vorbei nach Jinxy Ausschau,
allerdings vergeblich: Wegen des schönen Herbstwetters war meine Freundin mit
dem Fahrrad unterwegs, und wahrscheinlich drehte sie gerade eine Extrarunde, um
die Sonnenstrahlen besonders lange genießen zu können.
„Lily,
warte doch mal“, hörte ich Rasmus hinter mir, als ich – immer noch fieberhaft
in meiner Tasche wühlend – eilig auf das Schulhaus zusteuerte. Ich versuchte
noch schneller zu gehen und mich zwischen anderen Schülern in das Gebäude zu
drängen, doch der riesige Bluterguss an meinem Brustkorb tat bei jeder Bewegung
weh.
Noch
vor dem Schultor holte Rasmus mich ein. „Wieso hast du es denn so eilig?“,
fragte er, „Angst vor einem plötzlichen Wetterumschwung …?“ Dann fasste er nach
meiner Schulter, und ich zuckte zurück, als hätte er mich verbrannt. „Hey …“
Mit zwei schnellen Schritten kam Rasmus um mich herum und stellte sich mir in
den Weg. „Was ist denn los? Warum bist du gestern nicht gekommen? Ich hab eine
halbe Stunde auf dich gewartet.“
Mein
Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als ich die Besorgnis in seiner Stimme
hörte und zugleich wusste, dass er mir schamlos ins Gesicht log. Langsam atmete
ich aus und hob das Kinn. Obwohl die gespielte Anteilnahme in seinen dunklen
Augen schwer zu ertragen war, zwang ich mich, ihn direkt anzusehen.
„Du
warst doch dabei“, sagte ich leise und spürte ein schwaches Erstaunen darüber,
dass meine Stimme nicht zitterte. „Du hast auf der anderen Straßenseite
gestanden, während die beiden mich geschlagen und mit ihren Messern bedroht
haben, und du hast alles mitangesehen.“
Es
war merkwürdig, die Veränderung in Rasmus‘ Gesicht zu beobachten: Sein üblicher
verschlossener Ausdruck verwandelte sich zwar oft in ein ironisches Lächeln,
wenn er sich mit mir unterhielt, doch hilflos hatte ich ihn noch nie erlebt.
Nach einigen Sekunden des Schweigens wich er meinem Blick aus und sah nach unten,
wo er das lederne Band immer wieder um sein linkes Handgelenk drehte. „Also“,
begann er schließlich stockend, „ich weiß, dass das für dich so ausgesehen
haben muss, als wäre mir egal, was da passiert ist. Aber ich – ich war einfach
zu überrascht, und als ich gerade einschreiten wollte, sind die beiden ja schon
abgehauen …“
Schweigend
lauschte ich seinen halbherzigen Ausflüchten, während das Brennen in meinen
Augen immer stärker wurde. Das Bild, das ich mir von Rasmus gemacht und bisher
gegen jegliches Misstrauen verteidigt hatte, wurde mit jedem seiner Worte
gröber verzerrt, bis es mir schließlich völlig fremd erschien. Vielleicht hatte
Jinxy ja doch Recht gehabt, und Rasmus waren irgendwelche schlimmen Dinge
zugestoßen, die ihn zu dem gemacht hatten, was er nun war – jemand, dessen
Verhalten von einem Moment auf den anderen ins komplette Gegenteil umschlagen
konnte; der es aus einer Laune heraus bei einer Prügelei problemlos mit drei
Jungen gleichzeitig aufnahm, aber abgestumpft dabei zusah, wie ein Mädchen
überfallen wurde … Aber ich konnte seine Vergangenheit nicht mehr als
Entschuldigung gelten lassen.
Als
ich mich ohne ein weiteres Wort zum Gehen wandte, streckte er blitzschnell die
Hand aus und hielt mich am Arm fest. „Lily, bitte …“
Ich
fuhr herum und versuchte krampfhaft meine Tränen daran zu hindern, mir über die
Wangen zu rollen, während ich hervorstieß: „Was ist? Glaubst du wirklich, dass
du das irgendwie rechtfertigen kannst?“
Einen
Moment lang hoffte ich verzweifelt, dass es genau so war – dass er mir
schulterzuckend irgendeine andere Erklärung bieten würde, die auf einen Schlag
meine Furcht als unbegründet erwies, so wie damals bei der Sache mit dem
angeblichen Einbruch … Doch er schwieg. Da riss ich mich los und lief ins Schulhaus
hinein.
11.
Kapitel
Eine
Grippewelle hatte die Galilei High erfasst, Jinxy war schon die ganze Woche
lang krank. Nun hatte es offenbar auch Sam erwischt: Um mir Gesellschaft zu
leisten, war er in den vergangenen Tagen ebenfalls mit dem Bus zur Schule
gefahren, aber an diesem Morgen blieb der Platz neben mir leer. Während der
Fahrt verschanzte ich mich hinter einem Buch, doch als ich einsam und allein
auf das Schultor zuwanderte, war das leider nicht
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