Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
er
fortfuhr: „Etwas später habe ich es bereut, sie einfach so im Stich gelassen zu
haben. Ich bin noch einmal zurückgekehrt, nur um zu erfahren, dass sie sich
umgebracht hatte. Sofort habe ich unsere Richter aufgesucht und alles
gestanden. Sophies Tod wurde mir als indirekter Mord angelastet; hätte ich sie
mit meinen eigenen Händen getötet, wäre ich direkt zu den Schatten gekommen.
Aber so mussten sie sich für mich etwas anderes ausdenken.“
„Zu
den Schatten?“, wiederholte ich verwirrt.
Rasmus
nickte müde. „Kein Himmel ohne eine Hölle, Lily“, sagte er knapp. „Es ist die
Welt, die unserer entgegengesetzt ist. Wer von uns die Höchststrafe verdient,
wird zu den Schattenwesen geschickt. Mir wurden allerdings nur die Flügel
abgetrennt, und ich kam auf Bewährung hierher.“
Ich
stieß einen Laut aus, den man wohl als ungläubiges Schnauben bezeichnen konnte.
„Und das heißt – was, dass du bei guter Führung entlassen wirst?“
Er
schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht. Ich darf erst zurückkehren,
wenn ich ein menschliches Leben gerettet habe.“
„Und
der Haken?“
„Woher
weißt du, dass es einen gibt?“
„Es
gibt immer einen Haken.“
„Allerdings,
und dieser hier ist ziemlich spitz: Wenn ich ein menschliches Leben zerstöre ,
werde ich endgültig zu den Schatten verbannt.“
„Als
ob ich es geahnt hätte.“
Rasmus
lehnte sich zurück, und aus irgendeinem Grund schien es ihm nun leichter zu
fallen, mich anzusehen. Er hörte sich auch fast wieder so an wie früher, als er
weitersprach: „Tja, man möchte doch eigentlich meinen, dass es keine große
Sache ist, einen Menschen zu retten, oder? Aber Fehlanzeige. Wenn ich für
irdische Maßstäbe älter aussehen würde, hätte ich mich vielleicht bei der
Feuerwehr bewerben können, doch so blieb mir nur die Schule. Ich habe mich
gleich nach meiner Verbannung in eine Highschool einschreiben lassen, um
möglichst viel unter Leuten zu sein. Aber irgendwie geraten diese Leute auf dem
Weg von einem Klassenzimmer ins andere so bedauerlich selten in Lebensgefahr.“
Auf
einen Schlag begriff ich. „Du hast mitangehört, wie die Schulärztin aus meiner
Akte vorgelesen hat! Und wie ich gesagt habe, ich würde mich ständig in
Lebensgefahr bringen! Deshalb hast du mich also um ein Date gebeten?“
Rasmus
brachte ein kleines Lächeln zustande. „Deshalb – und weil ich die Sache mit dem
Klopapier wirklich ganz niedlich fand.“
„Lass
das“, sagte ich missmutig. Natürlich hatte es einen bizarren himmlischen
Grund dafür gegeben, dass Rasmus sich mit mir hatte verabreden wollen; wie
hatte ich nur so blöd sein können, etwas anderes zu glauben? Erst als mir klar
wurde, dass Schmollen in einer Situation wie dieser absolut unangebracht und
außerdem ziemlich lächerlich war, versuchte ich mich zusammenzureißen. „Also
war unser kleiner Ausflug in den Steinbruch so gesehen ein totaler Reinfall“,
stellte ich möglichst nüchtern fest.
„Eben
nicht“, verbesserte mich Rasmus. „Du hattest dich ja hartnäckig geweigert, zu
fallen.“
„Ich
fasse es nicht, dass du in diesem Augenblick schlechte Witze machen kannst!“,
sagte ich vorwurfsvoll. Rasmus grinste und machte Anstalten, mir
beschwichtigend die Hand auf den Arm legen, aber mitten in der Bewegung hielt
er inne. Als er das Gesicht verzog, während er sich langsam wieder
zurücklehnte, erkannte ich, dass sein Rücken immer noch wehtat.
„Deine
Narben?“, fragte ich leise.
Rasmus
machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es hat schon fast aufgehört. Diese
Schmerzen sind ein Zeichen dafür, dass meine Bewährungszeit begrenzt ist, oder
es zumindest sein sollte. Ich bin jetzt seit genau zwei Jahren hier, und das
ist bald länger, als irgendein anderer Gefallener es jemals vor mir geschafft
hat. Manche hatten Glück, und sie konnten ins Licht zurückkehren. Andere haben
es irgendwann nicht mehr ausgehalten … das heißt, ihr Dasein hier hat sie um
den Verstand und letztendlich in die Schattenwelt gebracht.“
„Was
willst du damit sagen?“, erkundigte ich mich stirnrunzelnd. Dieses ganze Gerede
über Verbannung und Verdammung machte mich allmählich nervös, und Rasmus schien
das zu bemerken. Freundlich erklärte er:
„Wir
sind es nicht gewohnt, so machtlos und schwach zu sein wie hier, Lily. Mit
jedem Tag, den wir in der irdischen Welt verbringen, werden wir ein bisschen
menschlicher.“
„Du
sagst das, als wäre es etwas Schlechtes.“
„Ich
möchte
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