Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
sich minutenlang nicht
gerührt hatte, war ich vorsichtig auf ihn zugeschlichen und hatte meine
zitternden Finger auf seine Halsschlagader gelegt. Sein Puls war ruhig und
gleichmäßig – auf jeden Fall langsamer als mein eigener – und auch seine Atmung
hörte sich normal an. Wie konnte man bloß feststellen, ob jemand bewusstlos war
oder einfach nur schlief? Und wenn Rasmus tatsächlich das Bewusstsein verloren
hatte, wie lange sollte ich dann warten, bis ich einen Krankenwagen rief – oder
sollte ich überhaupt einen rufen? Würden die Ärzte irgendetwas Gruseliges
entdecken, wenn sie Rasmus genauer untersuchten? Ich schauderte und zog
unschlüssig mein Handy hervor, das mir die Entscheidung abnahm: Der Akku war
leer.
Als
Rasmus einen tiefen Atemzug machte und sich dann zusammenrollte, nahm ich das
als Zeichen dafür, dass er wirklich in eine Art Schlaf gefallen war. Ohne zu
wissen, warum ich das überhaupt tat, zog ich eine karierte Decke vom
mottenzerfressenen Sofa und warf sie hastig über Rasmus‘ Beine, bevor ich
wieder bis zur Mauer zurückwich.
Mir
blieb gar nichts anderes übrig, als hier zu warten, auch wenn ich eigentlich
keine Ahnung hatte, worauf: Selbst bei Tageslicht hätte ich wohl kaum alleine
aus dem Wald herausgefunden, und nun war die Sonne bereits am Untergehen. Wie
hatte ich mich an diesen gottverlassenen Ort kutschieren lassen können, ohne
einen Plan zu haben, wie ich wieder nach Hause kommen sollte? Was hatte ich mir
bloß dabei gedacht?
Die
Wahrheit sprach nicht unbedingt für meine Zurechnungsfähigkeit: Ich hatte
überhaupt nichts gedacht. Ich war voll und ganz von einer kindischen Neugier
erfüllt gewesen und von der Sorge, dass Rasmus vielleicht Hilfe brauchte. Und
nun saß ich hier mit jemandem fest, der mich, nach dem gesprungenen Fußboden zu
urteilen, gleich als erste Tat nach dem Aufwachen mit einer Hand zerquetschen
konnte.
Allerdings
hätte ich es wohl auch nicht übers Herz gebracht, Rasmus einfach so liegen zu
lassen. Wenn er dir etwas antun wollte, hätte er doch schon so oft
Gelegenheit dazu gehabt, beschwichtigte mich ein törichtes Stimmchen in
meinem Kopf. Angestrengt versuchte ich ihm zu glauben und nicht an die dunkle
Gestalt zu denken, die mich dabei beobachtet hatte, wie ich in der Allee
zusammengeschlagen wurde.
Als
ein leises Geräusch zu mir herüberdrang, spannten sich sofort meine Muskeln an.
Mein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft, und ich drängte mich so fest gegen
die Wand, als könnte ich mich darin verkriechen. Rasmus begann sich zu regen,
er streckte probeweise den Rücken durch, dann setzte er sich auf. „Lily?“,
murmelte er, und seine Augen weiteten sich, als er mich entdeckte. „Du bist
noch hier?“
„Ich
will nur ein paar Erklärungen, dann bin ich auch schon weg“, antwortete ich
kalt.
Schweigend
stand Rasmus vom Boden auf; seine Bewegungen wirkten immer noch ein wenig
unbeholfen, aber nicht mehr so qualvoll wie vor seinem Zusammenbruch. Er setzte
sich auf die Kante des Sofas, lehnte sich nach vorne und stützte die Unterarme
auf seine Knie. In dem fahlen Dämmerlicht, das durch die kleinen verdreckten
Fenster hereinkam, sah sein Gesicht grau und unendlich müde aus.
„Dann
frag“, sagte er ausdruckslos.
„Wer
… was bist du wirklich?“
Er
zuckte mit den Achseln und wandte den Blick ab. „Was glaubst du denn.“
„Was
ich glaube, ist wohl nicht länger von Belang“, gab ich heftig zurück. „Bisher
habe ich geglaubt, du wärst eben ein bisschen verschlossen und hättest
womöglich ein paar Probleme, die ich noch nicht kannte, aber das “, ich
machte eine hilflose Geste, die seine Person oder uns beide oder auch den
ganzen Raum mit einschloss, „das hier ist zu viel – alles, woran ich denken
kann, ist das Bild aus diesem Buch, Luzifer, dem die Flügel abgerissen werden,
und ich kann … ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren , das ist
alles so …“ Ich rang nach Luft und legte mir die Hände über Mund und Nase, als
ich merkte, dass mir schwindlig wurde.
„Na
ja“, meinte Rasmus, und ich konnte nicht erkennen, ob das Zucken seines
Mundwinkels ein missglücktes Lächeln war, oder ob er vor Schmerz das Gesicht
verzog. „Da bist du doch gleich ganz nahe dran. Was anderes hätte ich von dir
auch nicht erwartet.“
„Aber
das ist nicht möglich“, flüsterte ich.
„Irgendwie
sitzt der Gegenbeweis zu dieser These genau vor dir“, wandte Rasmus ein. „Du
kannst dir gern ein Skalpell holen und das
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