Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
vorsichtig durch die Luke schob. Auf allen
Vieren krabbelte ich auf die Holzdielen, die hier über dem Granit ausgelegt
waren; dann sah ich mich überrascht um. Inzwischen war Rasmus ebenfalls oben
angelangt und zog mich auf die Füße. „Ich hab hier ein bisschen was gemacht,
nachdem ich eingezogen bin“, antwortete er auf meine nicht ausgesprochene
Frage, und es hörte sich entschuldigend an. „Eine Wasserleitung gab es zum
Glück schon, allerdings nur für Kaltwasser, und ich habe keinen Strom, also
müssen Campinglampen herhalten …“
„Es
gefällt mir“, sagte ich schnell, und das stimmte; soweit man das Dachgeschoß
eines Aussichtsturms gemütlich einrichten konnte, hatte Rasmus das geschafft.
Der Raum war in einen Ess- und einen Wohnbereich unterteilt: Auf der einen
Seite gab es einen rostigen Gasherd, eine Spüle, eine Stellage mit
zusammengewürfeltem Geschirr und einen kleinen runden Esstisch, auf der anderen
standen ein breites Bett und ein überquellendes Bücherregal. Eine Ecke des
Zimmers war mit einem Vorhang abgetrennt, hinter dem ich das Badezimmer
vermutete. An den Wänden hingen Poster und Filmplakate, die Rasmus ein wenig
umgestaltet hatte: Unter anderem entdeckte ich Darth Vader mit roter Gesichtsmaske,
Mia aus Pulp Fiction mit grünen Haaren und einem kunterbunten Joker aus The
Dark Knight , was zusammen eine schräge Pop-Art-Collage ergab. Noch viel
mehr erstaunte mich allerdings der Fußboden: Auf den ersten Blick hatte ich
gedacht, er sei mit merkwürdigen Schlangenlinien verziert; dann aber erkannte
ich, dass Rasmus Zitate aus Büchern darauf gepinselt hatte – genauer gesagt
jeweils den ersten Satz der Geschichte.
„Du
bist ja ein Freak“, meinte ich beeindruckt, und Rasmus zuckte bescheiden mit den
Schultern.
„Bedenke,
dass ich hier ganz alleine und ohne Internet rumsitzen muss“, sagte er, aber
ich hörte schon kaum mehr zu, sondern war bereits dabei, die verschlungenen
Schriftzüge zu entziffern. Ich spazierte über „Nennt mich Ishmael“ aus Moby
Dick weiter zu „Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren
schlugen gerade dreizehn …“ aus Orwells 1984 . Als ich „In einer
Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit“ las, musste ich lächeln und setzte
dann meinen Weg fort in Richtung Kafkas „Jemand musste Josef K. verleumdet
haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er verhaftet.“ Bei
Süskinds „Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu
den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen
Gestalten nicht armen Epoche gehörte“ war ich, ohne es zu bemerken, bis zu
der Hälfte des Zimmers gekommen, die Rasmus als Schlafbereich nutzte. Ich riss
mich von den Literaturzitaten los und drehte mich schnell um.
„Das
ist also der Ort, an dem die Magie stattfindet?“, versuchte ich zu scherzen und
vermied es dabei, zu seinem zerwühlten Bett zu schauen.
Rasmus
runzelte die Stirn. „Nein, Lily“, sagte er ernst, „nicht Zauberer. Engel. “
Ich
schnitt ihm eine Grimasse und ging eilig zum Esstisch hinüber, wo ich meine
Bücher und Hefte ablud. Rasmus hatte inzwischen begonnen, an der Küchentheke zu
hantieren. Höflich erkundigte ich mich: „Ähm … kann ich dir irgendwie helfen?“
„Dir
ein Messer in die Hand geben?“, fragte Rasmus zurück, dann lächelte er mich
über die Schulter hinweg an. „Nein, lass mal. Und außerdem befreit das
erstaunlich coole Aufnehmen eines Engelsoutings von solch niederen Diensten.“
„Wenn
du wüsstest. Ich habe immer noch das Gefühl, dass mein Schädel jeden Augenblick
explodieren könnte“, erwiderte ich – doch das entsprach nicht ganz der
Wahrheit. Tatsächlich fühlte ich mich genau so, wie Rasmus gesagt hatte: erstaunlich
cool ; und dies war sicherlich der erste Augenblick in meinem Leben, in dem
ich etwas Derartiges von mir behaupten konnte. Schön, wenn ich tief in mich
hineinhorchte, vernahm ich ein Stimmchen, das abwechselnd hysterisch kreischte
und kicherte, aber das war sehr leise und gut auszuhalten. Wenn ich ehrlich
war, erschien mir die Geschichte von Rasmus‘ Herkunft gerade ebenso unfassbar
wie die Tatsache, dass ich mich gerade in seiner Küche befand, wo er Tomaten
für unser gemeinsames Abendessen schnitt. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und
ich konnte von meinem Platz aus sehen, wie sich die Sehnen seines Unterarms
bewegten, während er das Messer hob und senkte. Es wirkte so menschlich, so
normal – und dann auch
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