Verbannte der Ewigkeit
nehmen zu können.
Barrett verhielt auf der Spitze des Hügels, um Luft zu holen. Für ihn roch die fremdartige Luft natürlich schon lange nicht eigenartig. Er holte mehrmals tief Luft, bis ihm fast schwindelig davon wurde. Der Regen hatte wieder nachgelassen, und durch das eintönige Grau des Himmels zuckten hier und da zaghaft ein paar Sonnenstrahlen und brachten die nassen Felsen zum Glitzern. Barrett lehnte sich auf seine Krücke und schloß für einen Augenblick die Augen. Vor seinem geistigen Auge sah er seltsame Urtiere, die aus dem Meer krochen, sah, wie sich das Moos immer mehr ausbreitete, sah, wie grüne Pflanzen die grauen Felsen verzauberten, wie die ersten Wirbeltiere an Land krochen, wie sich tropische Hitze ausbreitete und Wälder im Sumpf versanken, um zu Kohle und öl zu werden.
Das alles lag in der Zukunft – die Dinosaurier, die Säugetiere, die ersten Menschen, die in den Urwäldern Javas mit Steinäxten jagten.
Sargon, Hannibal, Attila, Orville Wright, Thomas Edison, und schließlich Edmond Hawksbill. Eine Regierung, die die Gedanken gewisser Menschen für so unerträglich hielt, daß sie diese Menschen an einen Platz der Vergangenheit schleuderte, von dem aus sie nicht mehr gefährlich werden konnten.
Natürlich war man zu zivilisiert, um Menschen einfach umzubringen, aber auch zu schlau, um sie weiterhin ihren schlechten Einfluß ausüben zu lassen. Ein Mittelding dazwischen war das lebendig Begrabensein im Hawksbill-Lager. Eine Mauer aus einer Milliarde Jahre war ein sicherer Schutzschild selbst gegen die nihilistischsten Ideen.
Mit verzerrtem Gesicht legte Barrett den Rest des Weges zurück. Er hatte sich schon lange mit seinem Schicksal abgefunden, nicht aber mit seinem verletzten Fuß. Er war immer körperlich kräftig gewesen und hatte das Alter gefürchtet, in dem seine Kraft unweigerlich nachlassen würde. Allerdings war dieser Prozeß mit sechzig Jahren noch nicht so fortgeschritten, wie er befürchtet hatte, obwohl diese Jahre natürlich auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Er hatte den Gedanken, jemals wieder die Freiheit zu erlangen, aufgegeben, wünschte sich aber nichts sehnlicher als eine Möglichkeit, seinen Fuß wieder herzustellen.
Er betrat seine Hütte und schleuderte die Krücke beiseite und legte sich sofort auf sein Klappbett. Als er in das Lager gekommen war, hatte es noch keine Betten gegeben. Man schlief einfach auf dem Boden – in dieser Beziehung hatte sich einiges verbessert.
Barrett war im Jahre 2008 hierher geschickt worden, als das Lager gerade aus einem Dutzend Hütten bestanden hatte und es keinerlei Komfort gab. Durch die dann folgenden Lieferungen von oben hatte man sich dann aber einigermaßen erträglich eingerichtet.
Von den etwa fünfzig Männern die vor Barrett hierher verbannt worden waren, lebte niemand mehr, und somit war er der Älteste im Lager, was die Anwesenheit betraf und seit der weißhaarige Pleyel gestorben war, den Barrett fast wie einen Heiligen verehrt hatte. Die Zeit verlief hier im gleichen Rhythmus wie Oben, so daß Hahn, der etwa zwanzig Jahre nach Barrett hier eingetroffen war, auch Oben zwanzig Jahre nach Barretts Verbannung losgeschickt worden war. Barrett war nicht sehr begierig darauf, Hahn über die Zustände Oben sofort auszuhorchen. Nach und nach würde er schon alles Wesentliche erfahren – und vermutlich war es sowieso nichts Erfreuliches.
Barrett griff nach einem Buch, aber die Anstrengungen des Marsches zu Latimer hatten ihn doch mehr beansprucht, als er sich selbst eingestehen wollte, und nach einer Seite fielen ihm die Augen zu.
Vor seinem geistigen Auge erschienen kurz einige verschwommene Gesichter: Bernstein, Pleyel, Hawksbill, Janet. Und immer wieder Bernstein …
Nach wenigen Sekunden schlief Jim Barrett fest.
4.
Als Jimmy Barrett sechzehn Jahre alt war, sagte Jack Bernstein eines Tages zu ihm: »Wie kann man nur so groß und so alt sein und sich einen Dreck darum kümmern, wie es den schwachen und geknechteten Menschen hier auf der Erde geht?«
»Wer sagt, daß ich mich nicht dafür interessiere?« fragte Barrett zurück.
»Das liegt doch auf der Hand. Welche Aufgaben hast du dir gestellt, was tust du, um mitzuhelfen, daß diese Welt nicht untergeht?«
»Die Welt geht nicht.«
»Doch, sie geht!« sagte Bernstein wütend. »Liest du nicht einmal die Zeitungen? Ist dir nicht klar, daß wir uns seit langem schon in einer ständigen Krise befinden? Und wenn Leute wie du und ich
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