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vorgestellt hatte. Nach mehrwöchigem Hin und Her wurde beschlossen, dass Mikael sich am 17. März in der Rullåker Vollzugsanstalt bei Östersund einfinden sollte, einer offenen Anstalt für Kleinkriminelle. Mikaels Anwalt teilte ihm mit, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit vorzeitig entlassen werden würde.
»Prima«, sagte Mikael ohne allzu großen Enthusiasmus.
Er saß am Küchentisch und streichelte die braun gesprenkelte Katze, die es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht hatte, in mehrtägigem Abstand aufzutauchen und die Nacht bei Mikael zu verbringen. Von Helen Nilsson erfuhr er, dass die Katze Tjorven hieß und niemandem so richtig gehörte, sondern vielmehr in allen Häusern die Runde machte.
Mikael traf seinen Auftraggeber fast jeden Nachmittag. Manchmal fiel das Gespräch kürzer aus, manchmal saßen sie Stunden zusammen und redeten über Harriets Verschwinden und verschiedene Details in Vangers privaten Nachforschungen.
Nicht selten verlief das Gespräch so, dass Mikael eine Theorie formulierte, die Vanger sogleich verwarf. Mikael versuchte, die Distanz zu seinem Auftrag zu wahren, doch gleichzeitig merkte er, dass es Momente gab, in denen er selbst hoffnungslos fasziniert von diesem Puzzle war.
Mikael hatte Erika versprochen, eine Strategie für den neuen Feldzug gegen Hans-Erik Wennerström zu entwerfen, aber nach einem Monat hatte er die alten Ordner, die ihn vor Gericht gebracht hatten, noch nicht einmal aufgeschlagen. Im Gegenteil, er schob das Problem von sich weg. Jedes Mal, wenn er über Wennerström und seine eigene Situation nachzudenken begann, verfiel er in tiefste Niedergeschlagenheit und Apathie. In klareren Momenten fragte er sich, ob er langsam verrückt wurde wie der alte Mann. Seine Karriere war in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, und er versteckte sich in einem kleinen Ort auf dem Land, wo er Gespenstern nachjagte. Außerdem vermisste er Erika.
Henrik Vanger betrachtete seinen Co-Ermittler mit gedämpfter Besorgnis. Er ahnte, dass Mikael Blomkvist unter Gemütsschwankungen litt. Ende Januar fasste der Alte einen Entschluss, der ihn selbst überraschte. Er griff zum Telefonhörer und rief in Stockholm an. Das Gespräch dauerte zwanzig Minuten und drehte sich zum Großteil um Mikael Blomkvist.
Es hatte fast einen Monat gedauert, bis sich Erikas Zorn gelegt hatte. Eines Abends Ende Januar um halb neun rief sie ihn an.
»Du hast also tatsächlich vor, dort oben zu bleiben«, lautete ihre Begrüßung.
Der Anruf kam so überraschend, dass er zunächst um eine Antwort verlegen war. Dann zog er lächelnd die Wolldecke enger um sich.
»Hallo, Ricky. Das solltest du auch mal ausprobieren.«
»Warum? Hat es irgendeinen besonderen Charme, in Tjottahejti zu wohnen?«
»Ich habe mir gerade die Zähne mit Eiswasser geputzt. Das zieht vielleicht in den Plomben.«
»Selber schuld. Aber hier unten in Stockholm ist es auch schweinekalt.«
»Erzähl.«
»Wir haben zwei Drittel unserer festen Anzeigenkunden eingebüßt. Keiner will es direkt aussprechen, aber …«
»Ich weiß. Mach eine Liste von denen, die abspringen. Eines Tages werden wir sie in einer passenden Reportage erwähnen.«
»Micke … ich habe nachgerechnet. Wenn wir keine neuen Anzeigenkunden gewinnen, sind wir im Herbst pleite. So einfach ist das.«
»Das Blatt wird sich wenden.«
Sie lachte müde am anderen Ende der Leitung.
»Du hast gut reden da oben in deiner Lappen-Hölle.«
»Mach mal halblang - es sind mindestens fünfhundert Kilometer bis zur nächsten Lappensiedlung.«
Erika schwieg.
»Erika, ich bin …«
»Ich weiß. A man’s gotta do what a man’s gotta do and all that crap. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Tut mir leid, dass ich so eine Zicke war und nicht rangegangen bin, wenn du angerufen hast. Können wir noch mal von vorne anfangen? Soll ich mich trauen und dich da oben besuchen?«
»Wann immer du willst.«
»Muss ich eine Schrotflinte für die Wölfe mitbringen?«
»Nein. Wir mieten uns ein paar Lappen mit Hundeschlitten. Wann kommst du?«
»Freitagabend. Okay?«
Das Leben schien Mikael plötzlich unendlich viel heller.
Abgesehen von der schmalen geräumten Schneise bis zu seiner Tür lagen ungefähr neunzig Zentimeter Schnee auf dem Grundstück. Mikael musterte eine Weile die Schneeschippe und ging dann zu Gunnar Nilsson, um zu fragen, ob Erika ihren BMW während ihres Besuches bei ihnen parken konnte. Sie hatten genügend Platz in ihrer Doppelgarage und
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