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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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vorangeht. Irgendwer anderer Meinung?«
    Nichts. Eine sich in die Höhe schraubende Feldlerche. Max schlug eine Zeitung auf.
    »Also, es geht nur langsam voran. Ich denke mal, das liegt an der Hitze. Die neuen Gruben sind noch nicht so der Hit. Aber ich möchte euch heute sagen, dass sich die Arbeit bisher bereits voll gelohnt hat. Wir haben jetzt schon phantastische Funde gemacht. Ein neues Schachtgrab. Eine Begräbnisstätte. Sechstausend kleine Fundstücke, Tendenz steigend. Das ist mehr, als wir uns erhofft haben, und ich würde sagen, wir sind damit noch nicht fertig. In einem Monat, vielleicht auch schon in drei Wochen, brechen wir hier die Zelte ab und schauen mal, was unten in Orthia auf uns wartet. Aber bis dahin müsst ihr alle …«
    »Was ist denn das?«, sagte Eleschen, und bevor Missy lospoltern konnte (Ben sah ihr Gesicht, hochrot und verschwitzt), war Max auf den Beinen und gebot mit gesenktem Kopf und erhobener Hand Schweigen. Jetzt erst hörte er das Winseln.
    Es kam und ging, wie das Weinen eines Kindes, das allmählich den Grund für sein Unglück vergisst. Das, was den Ton erzeugte, war noch ein gutes Stück entfernt, kam aber näher oder wurde zumindest lauter.
    Sein erster Gedanke war: Sylvia. Vielleicht hatte jemand vergessen, eine Tür abzuschließen, und sie war ihnen irgendwie gefolgt, wie Hunde das in Geschichten so taten. Es schwang Furcht mit in den Lauten, eine schmeichlerische Bitte um Entschuldigung, als wüsste sie, dass sie etwas Unrechtes getan hatte, und gestünde dies nun winselnd ein.
    »Sylvia?«, rief er und ging einen Schritt weiter hinauf zu den Ruinen. Wieder erhob sich das Winseln, in den Bäumen hinter der Kapelle und dem Ziegenpfad, dort, wo Missy vor acht Tagen die Begräbnisstätte gefunden hatte. Eleschen kraxelte zu ihm hoch und riss an seinem Ärmel.
    »Da muss ihr irgendjemand neue Kunststücke beigebracht haben«, sagte er, doch mitten im Satz sah er ihr Gesicht und wusste, dass etwas nicht stimmte.
    Das Winseln verstummte mit einem letzten hervorgestoßenen Laut, irgendwas zwischen einem Hundebellen und dem Fauchen einer großen Katze. Und dann war die Stimme wieder zu vernehmen, sie stieg an, höher und höher wie Rauch, und hing in der Luft wie Rauch, ein vollkommener, grauenerregender Ton, weder tierisch noch menschlich – traurig, irre und herzzerreißend.
    Er wandte das Gesicht ab. Max jagte bereits querfeldein den Hang hinauf, vorbei an der Kapelle und wieder hinunter, geriet auf dem unebenen Gelände einmal ins Straucheln und stürzte, dann querte er den Ziegenpfad. Natsuko hockte am Boden und hielt sich die Ohren zu, Chrystos beugte sich über sie. Jason und Eberhard waren bei den Hütten – wo Jason sie beide hingelotst zu haben schien – offenbar in ein hitziges Gespräch verwickelt. Eleschen starrte zu den Bäumen hin; ihre Hand lag immer noch auf seinem Arm, Wangen und Lippen waren so bleich wie ihr Haar, die Haut um die Augen wirkte bläulich weiß, als wäre alles Blut aus ihrem Körper gewichen.
    »Was war das denn?«, fragte Missy hinter ihm. »Was war das? Entschuldigung, sagt mir wohl bitte mal jemand, was das war?«
    »Tsakal« , sagte einer der Griechen und stieß dann einen erregten Ruf aus. Ben drehte sich um und sah Themeus, der an ihm vorbei in den Wald zeigte, wandte sich in die Richtung und sah das Tier hinter den Bäumen, das sie beobachtete.
    Es war nicht sein Schakal: nicht seiner . Er fand es verstörend, dass ihn das überraschte. Dieses Tier ähnelte dem ersten – das gleiche ausgehungerte, teuflische Grinsen –, war aber kleiner und nicht so schön, mit scheckigem, kaninchengrauem Fell. Auch die Proportionen stimmten nicht, der Kopf war zu klein, die dünnen Beine vermochten den aufgeblähten Leib kaum zu tragen.
    Ein Krachen hallte aus dem Wald. Der Schakal lief den Hang hinauf, sah sich noch einmal um und war über die Kuppe verschwunden, bevor Max zwischen den Kiefern hervorkam. Er setzte ihm mühsam über das höher gelegene Terrain nach und blieb lange auf dem Grat stehen, dann trottete er zurück, wehrte ihre Fragen mit einer Handbewegung ab, griff sich seine Kelle wie ein Schwert und hockte sich beim Schädelraum hin.
     
An dem Abend bekam er von den anderen nichts zu sehen. Eberhard fuhr ihn hinunter in den Ort, mit Max auf dem Beifahrersitz, reglos wie eine Holzskulptur, und Eleschen auf der Rückbank neben ihm, die Arme vor der Brust verschränkt und mit verkniffenem Gesicht, als zöge es, dabei lehnte sie sich

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