Verborgen
Richtung Mystras. Natsuko war erst einmal dort gewesen, genau wie er, und es war weiter, als sie beide angenommen hatten, aber das schien ihr nichts auszumachen, und er war auch froh, einfach neben ihr herlaufen zu können, mit der Sonne im Rücken und weg von Sparta.
Es war ein schöner Tag. Die Luft war so klar, dass die Berge nähergerückt waren, zum Greifen nahe. Die höchsten Gipfel waren immer noch weiß. Er lächelte zu ihnen hinauf und hielt zwischen den aufsteigenden Bäumen Ausschau nach der verfallenen Stadt, als sie das erste Taygetos-Dorf erreichten.
Drei Schritte weiter merkte er, dass Natsuko stehen geblieben war. Sie waren fast schon an der Dorfkirche. Ein paar Jungen machten sich auf einem unbebauten Grundstück nicht weit von der Kirche zu schaffen. Zwei schleiften Äste zur Straße hinunter, ein dritter warf die Sprossen eines kaputten Stuhls auf einen Haufen Holz, der sich bereits übermannshoch rings um einen provisorischen Galgen erhob. Vom Querbalken baumelte eine männliche Stoffpuppe.
»Was ist das?«
»Der Judas. Sie verbrennen ihn.«
»Wann?«
»Morgen Abend. Um Mitternacht ersteht Christus von den Toten auf.«
Die Puppe hatte keinen Kopf. Der größte Junge stand mit ernster Miene auf einer Trittleiter und band die vielfingrigen Hände zusammen.
»Warum verbrennen sie ihn?«
»Wegen seines Verrats.«
Sie gingen weiter. Ein Mädchen kam den Berg herab auf sie zu; sie war kleiner als die Jungen und schleppte ein Brett, das zweimal so lang war wie sie. Sie wirkte wild entschlossen. Natsuko nahm seine Hand.
Mystras war geschlossen. Sie rasteten auf einer Bank an dem versperrten Tor zur unteren Stadt und gingen dann zu dem Restaurant, in dem er zehn Tage zuvor nicht gesagt hatte, dass er sie liebte. Das Gebäude war verlassen, aber die Treppe führte zu einer Gartenterrasse. Sie ließen sich im Gras nieder und aßen, bis sie Magenschmerzen bekamen; dann legten sie sich in den voranschreitenden Schatten eines Erdbeerbaums.
»Das ist eine Sonnenuhr.«
»Eine Baumuhr. Welche Zeit zeigt sie an?«
»Ich weiß nicht. Ich kann Baumuhren nicht lesen.«
Die Frühlingsblumen auf dem Rasen waren in dem Treibhauswetter verwelkt. Ein Schuss ertönte, oben in den Hügeln, das Echo hallte zwischen Felswänden und Ruinen.
»Sie zeigt an, dass es zu spät ist.«
»Dann geht sie falsch.«
»Ich hab schlimme Sachen gemacht.«
»Jeder macht schlimme Sachen.«
»Nicht so schlimme.«
»Eb hat gesagt, es wird ihm nichts geschehen.«
»Wir hatten nie vor, ihm was anzutun.«
Wir können weg von hier , wollte er ergänzen. Wir beide zusammen. Alleine schaffe ich es nicht. Aber als er sich herumdrehte, stellte er fest, dass sie wieder schlief, zusammengerollt wie ein überwinterndes Tier. Sie war blass: Nur ihre Lippen und die gelblichen Schatten unter ihren Augen brachten etwas Farbe in ihr Gesicht. Ihr Mund stand offen, ein aufrechtes U in ihrer Armbeuge, wie der Mund einer tragischen Maske. Er stand auf und räumte ihre Reste weg, dann setzte er sich hin und schaute sie an. Er fragte sich, was in diesem Kopf und diesem Herzen begraben war.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang machten sie sich auf den langen Heimweg. Natsuko blieb wieder stehen, bevor sie die Außenbezirke erreichten, an einem Haus mit geschlossenen Fensterläden.
»Wo sind wir?«
»Rate.«
Er schaute sich um. Es war ein öder Straßenabschnitt, nicht Land und nicht Stadt. Zwei Autowracks waren auf Ziegelsteinen aufgebockt. Ein alter Traktor lehnte betrunken unter einer Reihe Maulbeerbäume. Die hatte er schon einmal gesehen, fiel ihm ein; als er das erste Mal in Mystras gewesen war.
»Ich geb auf.«
»Max wohnt hier.«
Er schaute an dem Haus hinauf. Er war nie bei Max gewesen, war nie eingeladen worden und hatte sich nie eine solche Einladung gewünscht, hatte nichts über diesen Ort gewusst, außer dass er irgendwo außerhalb der Stadt war.
»Warum wohnt er so weit draußen?«
»Er ist menschenscheu. Nicht das hier. Das da unten.«
Er folgte ihrem ausgestreckten Arm. Ein Feldweg führte an dem verschlossenen Haus vorbei zu einem anderen, das kleiner und verwahrlost war. In einem Fenster brannte ein Licht. Der erste Schimmer des Abendrots glomm zwischen den Balken des unfertigen ersten Stocks. Dahinter stieg Rauch auf, eine dicke graue Säule vor dem Südhimmel.
»Er ist zu Hause. Siehst du?«
»Es riecht, als hätte er auch einen Judas.«
»Die verbrennen ihn nicht heute Abend. Hab ich doch gesagt. «
Er hatte
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