Verborgen
knarrte, als er ihr antwortete.
»Niemand begräbt sie. Der Vater entscheidet, das Kind auszusetzen. Er legt es irgendwo hinein. In einen Krug. Er bringt es aus dem Haus. Wenn das Kind gesund ist, lässt er es dort, wo andere es finden. Manchmal ist da nichts Unrechtes dabei. Der Vater hat kein Essen für das Kind. Er will nicht noch ein Mädchen. Dann nimmt vielleicht jemand das Baby. Wenn niemand es will, stirbt es. Aber diese Babys sind anders. Niemand wird sie jemals wollen. Der Vater schämt sich wegen ihnen. Für ihn sind das Ungeheuer. Er steckt sie in Krüge und bringt sie an einen Ort, wo niemand nach ihnen sucht. Der alte Platz unten am Hügel, wo die Menschen ihre kaputten Sachen hinunterwerfen. Sie werfen immer weiter kaputte Sachen da hin. Bald weiß keiner mehr, dass die Krüge da sind. Aber niemand begräbt sie.«
»Was sagen die Knochen?«, fragte Eberhard, zu müde oder zu ernst, um die Stimme zu heben, und Eleschen streckte sich in ihrem Sessel.
»Es ist Quecksilber. Genau wie zuvor. Die Missbildungen sind so ausgeprägt, dass die Mütter es aufgenommen haben müssen.«
»Warum hätten sie das tun sollen?«
»Aus Angst, nehme ich an, vor etwas, was sie für noch schlimmer hielten. Die Pest oder jedenfalls eine Krankheit. Quecksilber wirkt gegen manche Infektionen. Ich meine, es tötet alles Mögliche ab. Es sieht danach aus, dass Laco an etwas Derartigem gestorben ist: Die Votivgaben und die Arzneien, die wir gefunden haben, weisen darauf hin. Ich nehme an, die haben gedacht, sie schützen sich.«
Eine Zeit lang rührte sich keiner. Jason zündete sich eine Zigarette an und streifte die Asche in sein leeres Glas ab. Draußen auf dem Platz lachte eine Frau erfreut auf – ein schrilles Geräusch, zu laut und unangebracht. Ansonsten war es still auf den Straßen. In ein paar Stunden würde es Karfreitag sein, der Tag der Trauer.
»Was sollen wir machen?«, fragte Natsuko, und erst als Eberhard antwortete, begriff Ben, dass sie das Thema gewechselt hatten, dass sie nicht mehr von den Kindern in den Krügen sprachen.
»Wir fangen noch mal an.«
»Wie?«, wollte Jason wissen. Im selben Moment fragte Eleschen: »Wo?«
»In aller Ruhe, irgendwo. Es gibt Hunderte von Kirons. Die können sie nicht alle vor uns verstecken. Wir beenden die Ausgrabung, regeln alles mit Dr. Stanton …«
»Scheiße, wozu denn das?«
»Wir brauchen vielleicht ihr Vertrauen oder ihre Referenzen. Das wird schon nicht so schwer werden, Jason. Sie hat doch so um unsere Freundschaft gebuhlt.«
»Und wenn schon«, sagte Max. »Warum unsere Zeit mit ihr verschwenden? Wir brauchen keine Ausgrabung mehr. Bald ist Griechenland voller Touristen …«
»Ich könnte auch eine Touristin sein«, sagte Eleschen.
»Wenn wir uns dafür entscheiden, dann von mir aus. Auf jeden Fall müssen wir neue Jagdgründe finden. Hier sind unsere Hände sauber geblieben. Niemand weiß, was wir getan haben …«
»Ben weiß es«, sagte Max, und Ben antwortete automatisch, bloß um sich zu verteidigen.
»Und Kiron.«
Alle Köpfe drehten sich ihm zu, alle auf einmal, im Dunkeln.
»Max«, zischte Eleschen, »geh nicht immer wieder auf Ben los, okay. Er ist jetzt einer von uns.«
»Ach, wirklich?«
»Wie auch immer. Lass ihn einfach in Ruhe. Und was soll das mit Kiron?«
»Er kennt unsere Stimmen«, sagte Eberhard bedächtig. »Wie Ben mir gesagt hat, weiß er auch, dass einige von uns Engländer sind. Das ist bedauerlich, reicht aber nicht aus, damit er uns identifizieren kann. Wir lassen ihn weit von hier zurück, wie geplant, und da wird sich niemand einen Reim drauf machen können…«
Jason kichert unvermittelt. Er hob die Hände, als sie ihn anschauten. »Nein, tut mir leid.«
»Was hast du denn?«
»Nichts, ich denke nur laut. Achtet gar nicht auf mich.«
»Ich verstehe nicht, was es hier zu lachen gibt.«
»Hängt vom jeweiligen Humor ab, Eberhard. Meiner ist schwarz, und du hast keinen. Nichts für ungut. Es verwandelt sich nur alles in Scheiße, das ist alles.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Alles. Wir. Diese Schweine in Athen lassen uns zappeln, und jetzt graben wir auf einmal Missgeburten aus.«
»Das ist voreilig. Es ist immer noch möglich, dass sie sich melden. Und davon unabhängig: Die Krüge haben nichts damit zu tun, was wir geschafft haben …«
»Nein?«
Jason schüttelte den Kopf, setzte sich in seinem Sessel auf, zündete sich eine neue Zigarette an und wedelte das Streichholz aus. Die Bewegungen verschwammen
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