Verborgen
Morgen war sie nirgends zu finden.
Als Erstes ging er zu ihrer Wohnung. Als niemand aufmachte, rief er von einer Zelle auf dem Platz ihr Handy an, dann ging er zu Eberhard.
Eleschen machte ihm auf. Sie trug einen Morgenmantel mit dem Emblem seines Hotels. Er fragte sich, wann sie ihn gestohlen hatte. Sie schien überrascht, ihn zu sehen. Ihr Haar war zerzaust, eine Wolke im Licht der Morgensonne.
»Ben?«
»Hab ich dich geweckt?«
»Unsinn, ich war die ganze Nacht auf. Was willst du?«
»Darf ich reinkommen?«
»Sicher, warum nicht?«
Er stieg hinter ihr die Treppe hinauf. »Ist Natsuko hier?«
»Hast du das erwartet? Jason ist da. Eb war auch da, ist aber gerade gegangen. Wir versuchen, etwas Essbares aufzutreiben. Weißt du, dass schon wieder alles zu ist? Nur die Bäckereien haben offen, aber sie verkaufen kein Brot, sondern vermieten nur ihre Backöfen für Lammbraten …«
In der Küche lief ein Radio, Popmusik war zu hören, ihre Lustigkeit fehl am Platz in Eberhards Wohnzimmer. Die Fenster waren alle weit geöffnet, und die Vorhänge bauschten sich nach innen.
»Jason! Ben ist da.«
»Was hat er für uns?«
»Nichts.«
»Dann sag ihm, er soll sich verpissen.«
Der Raum kam ihm seltsam ausgehöhlt vor. Erst nach einer kleinen Weile begriff er, dass es an den leeren Regalen lag: Eberhards Bücher waren weg. Auch die anderen Möbel waren von zufälligen Besitztümern gesäubert worden – alles bis auf den Schreibtisch war leer gefegt. Das alte Gepäck aus dem Flur vor der Küche stand aufgereiht an einer Wand.
»Ihr reist also ab«, sagte er, und Eleschen lächelte fröhlich und tat jede Verlegenheit mit einem Achselzucken ab.
»Es ist jammerschade. Sparta wird mir fehlen. Das war der ideale Ort für uns.«
»Wohin geht ihr?«
»Irgendwohin mit viel Sonne, hoffe ich. Ich könnte wirklich ein bisschen Sonne gebrauchen.«
Darf ich mitkommen?
Er dachte es nur: Er sagte es nicht. Das hätte sie ihm schon längst beantworten, schon längst anbieten können, wenn sie das gewollt hätte. Und nur der Schwache in ihm, der mäuschenhafte, hungrige, knochendürre Junge brachte ihn dazu, diese Frage überhaupt stellen zu wollen. Er wäre auch nicht mitgefahren, wenn er gekonnt hätte.
Einer von uns . So hatte Eleschen ihn genannt, an dem Abend, als die Ausgrabung geendet hatte. Aber das war er nicht, war er nie gewesen, würde er nie sein. Eberhard hatte sich in ihm geirrt. Irgendetwas fehlte ihm. Oder ihnen. Dessen war er sich an jenem Abend sicher gewesen, in seinem Zimmer, in der Düsternis, als sie davon gesprochen hatten, noch einmal neu anzufangen, einen neuen Kiron zu finden.
In der Nacht, als er die schlafende Natsuko betrachtete, hatte er gewusst, dass er nicht mit ihnen mitgehen würde. Jetzt erkannte er, dass sie es auch gewusst hatten. Dass sie ihn aufgegeben hatten. Dass er sie enttäuscht hatte.
Ob sie ihm noch trauten?
Er zog einen Vorhang vom Fenster zurück. Unten auf dem Kathedralenplatz jagten fünf Mädchen und ein Junge einander in endlosen Kreisen herum, konzentrisch, exzentrisch. Er hörte, wie Eleschen sich hinter ihm seufzend in einen Sessel sinken ließ.
»Wir haben dich gestern Abend vermisst.«
»Ich wusste nicht, wo ihr hingehen wolltet.«
»Wir waren alle hier.«
»Ich war sowieso müde.«
»Wir hätten zusammen müde sein können. Wir sind doch noch Freunde, oder, Ben?«
Er drehte sich um. Sie saß in dem alten Sessel, den Kopf zurückgelegt und leicht zur Küche hin gedreht. Ihr Morgenmantel war aufgegangen. Ihre Schenkel, ihr Hals und der Mantel selbst, die Falten und Rollen, waren allesamt makellos weiß.
»Du siehst aus wie aus Marmor«, sagte er leise. Ihr Kopf drehte sich ihm zu, aber ihre Augen hatte sie woanders.
»Was?«
»Nichts. Sorry. Natürlich sind wir Freunde.«
»Das ist gut.«
»Ich kann Natsuko nicht finden.«
»Armer Kleiner. Komm her, ich mach heile, heile Segen.«
Etwas Durchsichtiges hüllte seinen Kopf ein. Er ging von den Vorhängen weg, wehrte sie mit einer Hand ab. Sein Knie streifte ein Hindernis – die Seite des Schreibtischs –, Gläser klirrten und klangen, und eine leere Flasche kam ins Torkeln und wäre heruntergefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. Zwischen den Gläsern stand eine Schale voller Gefäßscherben. Eleschen lachte.
»Ach, Ben! Von Gardinen besiegt. Was sollen wir bloß mit dir machen?«
Die Scherben waren alt, der rötliche Ton grau und schwarz gefleckt. Scherben aus Therapne, dachte er, und halb
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