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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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Mängeln zur Welt kamen, von Staats wegen in die Berge gebracht und dem Tod überlassen. Unvollkommenheit war gleichbedeutend mit Monstrosität. Um ein vollkommenes Kind zu beten, hatte nichts mit Eitelkeit zu tun.
    Kastor und Polydeukes waren Soldatengötter, Waffenbrüder. Als Kastor getötet wurde, weinte der unsterbliche Polydeukes, weil er ihm nicht in den Tod folgen konnte. Den Vater der beiden, den Allvater, ergriff Mitleid. Er entzog Polydeukes die Hälfte seiner Unsterblichkeit und gab sie Kastor. Von da an verbrachten die Brüder abwechselnd jeweils einen Tag in der Unterwelt, den anderen im Olymp. Später versetzte Zeus sie als Sternbild der Zwillinge an den Himmel.
    Ares war ein Gott, dem man misstraute. Nur wenige liebten diesen Gott der Grausamkeit. Eine freundlichere Macht war Athene: Die Kriegsgebete, die man ihr darbrachte, galten dem Sieg. Zu Ares betete man nicht nur um glückliche Geschicke, sondern auch um den Krieg selbst. Unter den Spartanern genoss er hohes Ansehen. Sein Beiname dort lautete Thereitas, der Grimmige . Sein Heiligtum stand an der alten Straße von Sparta nach Therapne. Schwarze Hunde und auch Menschen wurden ihm vor der Schlacht geopfert. Seine Begleiter waren Alala, die Göttin des Schlachtrufs, Kydoimos, der Gott des Schlachtgetümmels, Enyo, die Göttin des blutigen Nahkampfs, und seine Söhne Deimos und Phobos, Schrecken und Furcht .
    Schließlich ist da noch Orthia. Artemis Orthia wird sie heute genannt – eine weitere Artemis –, doch nur in römischer Zeit wurden die beiden Göttinnen gemeinsam verehrt. Artemis war vielgesichtig und zwiespältig. Orthia war schlichter. Hier ihre Geschichte.
    Es waren einmal zwei Brüder, die fanden im tiefen Wald eine hölzerne Säule. Sie war auf eine Weise gebrochen, gewachsen oder geschnitzt, dass ein Gesicht oder eine Gestalt zu erkennen war. Sie stand in einem Weidendickicht. Die Bäume schienen nur zu dem Zweck gewachsen, sie aufrecht zu halten. Es war, als hätte sie dort darauf gewartet, entdeckt zu werden.
    Kraft durchströmte die Brüder bei ihrem Anblick. Sie schafften die Säule aus dem Wald heraus. Die Lakedaimonier verehrten sie und nannten sie Orthia und Lygodesma, die Aufrechte und die Weidegebundene . Aus ihrer Anbetung erwuchs jedoch nichts Gutes. Furchtbares Unheil brachte sie mit sich. Die Brüder, die Orthia gefunden hatten, verloren den Verstand. Krankheit und Wahnsinn suchten Sparta heim. Um Orthia zu besänftigen, baute man ihr am Fluss einen Tempel. Opfer wurden dort dargebracht. Opfergaben wurden abgelegt. Doch die Spartaner entdeckten, dass nur Blut die Göttin zufriedenstellte. Die Priesterin hob die Weidegebundene empor, um den Grad ihrer Zufriedenheit zu wägen. War genügend Blut vergossen worden, wurde die Säule leichter. Wenn nicht, wurde die Last schwerer.
    Sie sind beklemmend, die Götter der Spartaner. Es sind Halbgötter, verletzlich, sterblich. Oder es sind grausame Unsterbliche, zwiespältig, zerstörungswütig. Von Blut und Schrecken abgesehen haben sie nicht viel gemeinsam. Sie alle sind Götter und Monster zugleich …
     

IV
     
    Ungeheuer
     
    Es stimmte, was er gesagt hatte: Er hatte Lyrik nie gemocht. Sie war ihm zu subtil, zu klar. Sie verlangte zu viel, und sie tat es, als hätte sie das Recht, irgendetwas zu verlangen. Es war, als würde einem die Wahrheit in den Schlund gestopft.
    Foyt dagegen liebte Lyrik. Manchmal hatte er seine Studenten in den Vormittagsseminaren Verse übersetzen lassen, in beide Richtungen, aus dem Altgriechischen ins Englische, aus dem Neugriechischen in die Koine.
     
    Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Die Lästrygonen und Zyklopen,
den zornigen Poseidon fürchte nicht,
solcherlei wirst du auf dieser Fahrt nie finden,
wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle
Regung deinen Geist und Körper anrührt …
     
    Auf Foyts Schreibtisch stand eine kleine, dreihundert Jahre vor Christus in Ephesos gegossene Silberbronze-Statuette der Kalliope, Muse der epischen Dichtung. Es war ein sehr seltenes, kostbares Stück. Unter Foyts Studenten ging das Gerücht, ein Kurator des British Museum habe Foyt zweitausend Pfund dafür geboten. Ben hatte immer eine gewisse Scheu vor der Figur empfunden.
    Es war eine junge Frau von konventioneller Schönheit, mit glatten, wenig muskulösen Gliedmaßen. Die Muse und ihre Schwestern waren aus neun Nächten göttlichen Liebestreibens hervorgegangen, doch der ephesische

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