Verborgen
Bildhauer hatte seine Kalliope zu makellos gestaltet, als dass sie erotisch hätte wirken können. Ihre Pose war ungewöhnlich, und das hatte den Kurator gereizt. Die Göttin war stehend dargestellt, eher in der Haltung einer Rednerin als in der einer Sängerin, den Kopf aufrecht, den Mund leicht geöffnet, die Hand in nachdrücklich-entschiedener Geste erhoben.
Ihr Blick war es, den Ben nicht mochte. Foyts Kalliope starrte. Es war ein Blick, den kein Lebewesen länger auf etwas anderes richten würde als auf Verwandtschaft oder Beute. Ein stierer Blick aus weit geöffneten Augen. Es waren Falkenaugen, entnervt und entnervend. Wo immer man in Foyts dunklem Arbeitszimmer saß – Kalliope starrte einen an.
Eberhard Sauers Blick war ähnlich. Ben hatte ihn in Foyts Lehrveranstaltungen kennengelernt. Zuvor hatten sich ihre Wege gekreuzt, aber sie waren einander nie begegnet. Er hatte Sauer in Vorlesungen und bei formellen Abendessen der Universität gesehen und kannte ihn vom Hörensagen. Aus sicherer Entfernung hatte er ihn beneidet. Sauer war einer von denen gewesen, die sich in Oxford zu Hause fühlten, die dafür geboren waren. Er war hager und selbstbewusst, und sein Blick hatte etwas Abschätzendes, als wollte er sich ein Urteil über das Niveau seiner Umgebung bilden, als taxierte er die Welt, während Ben sich stets nur an ihr maß.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, sofern man es so nennen konnte. Es war in seinem ersten Seminar bei Foyt gewesen. Emine und er hatten damals noch zusammen studiert; erst später hatte sie die Vergangenheit zugunsten einer einträglicheren Tätigkeit im Rechtswesen aufgegeben. Als sie etwas verspätet eintrafen, waren Eberhard und die anderen bereits da. Emine setzte sich neben Eberhard in einen Sessel am Erkerfenster, und die einzigen Sonnenstrahlen, die in den Raum fielen, schmiegten sich wie eine Katze in ihren Schoß. Für Ben und die anderen waren nur noch Plätze vorn am Pult frei.
Er saß Foyt am nächsten, und die Kalliope starrte ihm ein Loch in den Kopf. Es kam ihm vor, als beobachtete ihn auch Eberhard, und seine Nackenhaare sträubten sich, doch als er sich umdrehte, begegnete er nur Emines abwesendem Blick. Sauer schaute aus dem Fenster, mit den Gedanken ganz woanders, wie es schien. Er saß reglos da, nur seine Hand bewegte sich und strich über die flaumigen Blätter der Usambaraveilchen, die auf dem dunklen steinernen Fenstersims aufgereiht standen.
Die Fastenzeit hatte begonnen.
»Früher«, sagte Herr Adamidis, »haben wir das Restaurant geschlossen. Aber die Religion ist auch nicht mehr das, was sie mal war.«
Die Raubeine bildeten das Gros der Mittagsgäste. Abends war es ruhiger im Restaurant, und die Stunden zogen sich hin. In größerer Zahl kamen nur noch jüngere Gäste und die alten Stammgäste, die dann lange bei einem leichten Essen und einem kleinen Bier verweilten. Adamidis setzte sich zu ihnen in den Gastraum, machte die Buchhaltung und grimassierte, als könnte seine Anwesenheit den Fleischgeruch vertreiben.
Es war noch früh. Ben und Kostandin schärften die Messer und horchten mit einem Ohr, ob Gäste kamen. Florent kochte das Salz aus den Weinblättern. Modest wusch Kartoffeln und erzählte einen endlosen Witz von einem einbeinigen Bettler und einem dreibeinigen Hund, den Ben auch in Kostandins Übersetzung nicht verstand.
Als die Messer so weit waren, ging er nach vorn. Es war Freitag. Nur wenige Gäste waren da. Der Fernseher lief; ein alter Priester sang in ein Mikrofon. Adamidis saß unter den gerahmten Fotos seines jüngeren Ichs an der Bar und löste ein Sudoku. Als Ben eintrat, faltete er die Zeitung zusammen und winkte ihn heran.
»Komm, leiste mir Gesellschaft. Wie geht’s denn so? Setz dich doch.«
Er nahm Platz. Über ihnen schmetterte der Priester, Wascht euch, und ihr werdet rein sein .
»Meine Nichten haben mir übrigens wirklich einen Gefallen getan, als sie dich aufgegabelt haben. Du bist geschickt mit den Händen, und du hast was im Kopf. Gefällt’s dir hier?«
»Die Arbeit gefällt mir. Es ist besser für uns, wenn es nicht so ruhig ist.«
Wenn eure Sünde auch blutrot ist , soll sie doch schneeweiß werden ; und wenn sie rot ist wie Scharlach , soll sie doch wie Wolle werden …
»Besser für euch, besser für mich. Karneval ist wie alle meine Namenstage auf einmal, aber hinterher muss ich dafür bezahlen. «
Ein tulpenförmiges Teeglas stand auf dem Tisch. Adamidis gab
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