Verborgen
zutreffen: Wer furchteinflößende Götter anbetet, tut es, um seine Ängste zu besänftigen. Waren die Spartaner furchtsam? Was, könnte man fragen, hatten ausgerechnet sie zu befürchten?
Sie waren fromm, ungewöhnlich fromm. Ihrer Götter wegen vermieden sie Schlachten, die sie nur hätten gewinnen können, oder schlugen sie Schlachten, die sie nur verlieren konnten. Ihre Heerführer opferten den Göttern und deuteten tierische Eingeweide – wieder und wieder, vor jeder Flussüberquerung, an jedem Schlachtfeld, vor jedem Angriff.
Die anderen Griechen verstanden sie nicht. Die Athener fürchteten sie und empörten sich über sie. Die Spartaner waren Griechen, betrachteten sich als Griechen, kämpften für das Ideal Griechenlands … doch sie machten Griechen auch zu Gefangenen. Ihre Zurückgezogenheit ging ihnen über alles. Jene, die sie besiegten, waren ihnen so fremd wie jene, die sie in den Krieg führten. Götter, Berge und Gesetze sonderten sie ab.
Weshalb nennt man sie überhaupt Griechen? Was heißt es, Grieche zu sein, wenn es etwas so Fremdartiges sein kann? Gewiss, viele ihrer Götter wurden in ganz Hellas verehrt. Apollon wurde verehrt und gefürchtet. Er war ein zwiespältiger Gott – Karneios, Lykeios und Smintheus; der Widder-Apollon, der Wolfsapollon, der Mäuseverschlinger –, der grausame Gott der Pest und der Weissagung, berechenbar allein in seiner Rachsucht, ein Gott, der jeden, der sich ihm entgegenstellte, tötete, verfluchte, bei lebendigem Leib häutete.
Die Spartaner liebten auch Artemis, Apollons Zwillingsschwester und weibliches Pendant. Es waren unbarmherzige Geschwister, diese Hüter der Sonne und des Mondes, Kinder der Göttin der Nacht. Die Wahl ist bezeichnend für die Spartaner. Sie hätten auch freundlichere Gottheiten anbeten können.
Was bedeutet es, Artemis als Göttin der Griechen zu bezeichnen? Wie viele Göttinnen wurden Artemis genannt, weil es dem jeweiligen Autor genehm war? Es gab die Artemis von Ephesos – eine nichtmenschliche Kaskade von Brüsten, ein Götterbild Kleinasiens, nährend und gütig – und die grausame Artemis von Tauris, der man schiffbrüchige Fremde opferte. Es gab die Artemis Athens, die Beste, die Gute Ratgeberin , und Spartas Artemis Knagia – die Brennende –, es gab Ambulia – die den Tod hinauszögert – , und Derrhiatis und Aeginaea – die Ledergerüstete und die Speerbewaffnete.
Sie war die Ungezähmte, die Zerstörerin, die unvergleichliche Jägerin, wild wie eine Bärin. Sie war die jungfräuliche Hüterin der Gebärenden. Sie war eine blutrünstige Göttin, eine Göttin des Weiblichen, die fleischgewordene weibliche Macht. Es gab mehr als eine Erscheinungsform der Artemis – heißt das nicht, dass es mehr als eine Erscheinungsform Griechenlands gab? Oder dass es so etwas im Grunde überhaupt nicht gab?
Dann waren da noch die Ahnengötter. Auf einem schmalen Plateau in den Hügeln über Sparta stehen seltsame pyramidenförmige Ruinen. Unter diesen Steinen und in ihrem Umkreis finden sich noch ältere Reste, unter Ruinen begrabene Ruinen, Ruinen, die schon uralt waren, als das klassische Sparta der Hopliten und Heloten in seiner Blüte stand. Mykenische Paläste gibt es dort, Gräber und Waffen, die noch älter sind, Steinklingen aus einer Epoche noch vor der Bronzezeit. In den Reiseberichten des Pausanias erscheint der Ort unter dem Namen Therapne als Festung des Menelaos, jenes rothaarigen Königs, der gegen das ferne Troja Krieg führte, um Helena, die geraubte Gemahlin, zurückzuholen. Die Pyramide markiert die Überreste dreier großer Kalksteinterrassen. Auf ihnen stand einst ein Heiligtum des mykenischen Königs und der Königin, ein klassisches Monument, errichtet, drei Jahrhunderte nachdem ein Feuer den letzten ihrer Paläste zerstört hatte. Noch heute wird es das Menelaion genannt, das Heiligtum des Menelaos, doch auch andere wurden hier verehrt: Helena und ihre halbgöttlichen Brüder.
Leda, die Königin von Sparta, wurde von Zeus in der Gestalt eines Schwans vergewaltigt. Sie gebar zwei Eier, ein sterbliches und ein göttliches. Aus dem göttlichen Ei schlüpften Helena und Polydeukes, ihr unsterblicher Bruder, aus dem sterblichen Kastor und die mordende Klytämnestra.
Was verehrten die Spartaner in Helena? Sie war ursprünglich eine Fruchtbarkeitsgöttin, später rückte ihre äußerliche Vollkommenheit in den Vordergrund. Sie war von überirdischer Schönheit. In Sparta wurden Kinder, die mit körperlichen
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