Verborgene Liebesglut
Mauern des jahrhundertealten Bergfrieds. Als Kind hatte er Tage damit verbracht, die ausgetretene Wendeltreppe im Inneren des Turmes mit Freunden hinauf- und hinunterzustürmen. Doch nun erweckte dieser Teil der alten Burg den Eindruck, als würde er sich nur mit Mühe aufrechthalten. Das Treppenhaus war bereits restlos in sich zusammengesunken. Einen ähnlichen Eindruck machten auch die Wohngebäude, die sich, teilweise eingestürzt, in große Felshaufen verwandelt hatten. Für einen kurzen Augenblick verließ Wilcox die Zuversicht, daß sich hier irgend jemand versteckt halten könnte. Einzig die gewaltige Schloßkirche schien dem Sturm der Jahrhunderte getrotzt zu haben, und im Halbdunkel ließen sich noch immer einzelne Wasserspeier erkennen, deren dämonische Fratzen aus grauer Vorzeit zu ihm herüberblickten.
Tatsächlich war dies der einzige Ort, an dem vielleicht etwas zu entdecken war. Vorsichtig rannte Wilcox geduckt über den Hof und hielt erst im Schutz des alten Brunnens für einen Moment inne. Wie vor vielen Jahren ließ sich das Geräusch der Tropfen in der Tiefe vernehmen, und der modrige Geruch des Wassers stieg aus dem tiefen Schacht zu ihm herauf.
Wilcox überlegte, ob es klug war, durch den Vordereingang in die Schloßkirche einzudringen, doch in seiner Erinnerung sah er keinen anderen Eingang zu dem Bau. Beherzt umgriff er den Dolch, den er vorsichtshalber mitgenommen hatte und der ihn vor dem Schrecklichsten bewahren sollte. Dann trat er durch das Portal der Kapelle.
Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit des gewaltigen Raumes zu gewöhnen. Er hielt den Atem an, während er sich davon überzeugte, daß er alleine war. Vorsichtig blickte er um die Ecke, doch auch hier ließ sich keine Spur eines anderen Lebewesens erkennen. Selbst an diesem Gebäude war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Das Dach war teilweise zusammengebrochen und verdeckte den Mittelgang, von dem aus man früher bis in den Chor schauen konnte.
Behutsam tastete er sich unter dem Gewölbe des Seitenschiffes entlang und gelangte an den schweren, glattgeschliffenen Steinblock, der seinen Vorfahren als Altar gedient hatte. Trotz der gefährlichen Situation konnte sich Wilcox dem Zauber dieses Ortes nicht entziehen, als er durch die zerstörten Fensteröffnungen des Chores nach außen schaute und sah, wie der Mond sein stilles Licht über die Landschaft ergoß.
Er suchte jeden Winkel des alten Gotteshauses ab. Doch vergebens. Wo sollte sich hier jemand versteckt halten? Er ging wieder hinaus auf den Hof und blickte sich um. Plötzlich hielt er inne. Im hinteren Teil des riesigen Schloßhofes sah er plötzlich Lichtreflexe, die aus einem Loch zu kommen schienen. Lautlos schlich er sich heran und entdeckte eine Steinplatte mit einem Eisenring, die offensichtlich zur Seite geschoben worden war. Aus der Öffnung daneben drang die Lichtquelle. Wilcox' Herz begann unruhig zu schlagen. Es war also wahr! Hier hielten sie Philippe gefangen!
Wieder umfaßte er fest den Griff des Dolches und schlich lautlos bis an die Öffnung, an der man eine verwitterte Treppe sah, welche in die Tiefe hinabführte. Für einen Moment zögerte Wilcox, weil er aus seiner Erfahrung wußte, wie gefährlich es war, alleine und ohne Rückendeckung einen unbekannten Ort zu betreten. Doch es gab keine andere Wahl, und es war der falsche Moment zu zögern. Schon hatte er die ersten glitschigen Stufen hinter sich gelassen und konnte einen Blick in den Raum erhaschen. Totenstille herrschte im Verließ; eine Fackel in einem eisernen Haken verlieh dem Gewölbe die unheimliche Atmosphäre einer Gruft.
Plötzlich blieb er stehen. Philippe! Er wollte seinen Augen nicht trauen. Wie in einer Kreuzigungsszene hing der junge Franzose ermattet in Ketten an zwei schweren Ringen, die in die feuchten Wände eingelassen waren. Das Haupt war seitwärts auf seine Schulter gesunken, und sein Mund war geknebelt. Dennoch hatte Philippe sofort das Eintreten des Lords bemerkt. Flehend sah er seinen Retter an. Fassungslos stand Wilcox auf den Stufen und blickte zu dem Gepeinigten hinüber. Philippes Blick wanderte plötzlich angsterfüllt an Wilcox vorbei in den hinteren Teil des Gewölbes.
Alles weitere geschah so schnell, daß sich später weder der Lord noch Philippe an den genauen Hergang erinnern konnte. Wilcox hörte unmittelbar neben sich ein Zischen und ein metallisches Geräusch. Behende sprang er zur Seite und zückte seinen Dolch. Ein kleiner
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