Verborgene Lust
vibrierende Stadt und den Nachthimmel, den die Lichter sepiafarben färben. Sie trinkt einen Schluck und denkt an Maria, ihre Großmutter – eine junge Tanzstudentin im Nachkriegslondon und Darstellerin in erotischen Filmen im freien Paris. Sie war verwegener als Valentina und ihre Mutter zusammen. Tina hat Maria stets kritisiert. Sie sagte, ihre Mutter habe sie nie verstanden. Nun, Valentina weiß, wie sich das anfühlt. Wenn sie jemals eine Tochter haben wird, wird sie sich dann genauso verhalten wie ihre Mutter und vergessen, wie es sich anfühlt, das Kind einer Narzisstin zu sein?
Valentina merkt, dass sich jemand neben sie auf das Sofa setzt. Sie hört ein höfliches männliches Hüsteln, ist jedoch zu sehr in Gedanken, um darauf zu reagieren. Erneutes Hüsteln, dann sagt eine Stimme:
»Hast du meine Nachricht weitergeleitet?«
Der eindeutig englische Akzent reißt Valentina aus ihrer Träumerei. Erschrocken zuckt sie zusammen. Sie kennt diese Stimme. Dass dieser Mistkerl Glen ihr die Nacht vermiest, hat ihr gerade noch gefehlt. Sie erkennt ihn sofort an seinem Geruch, sie muss ihn noch nicht einmal ansehen. Valentina versucht, ein Stück von ihm auf dem engen Sofa abzurücken. Sie dreht sich um und starrt ihn an. Er ist so dicht vor ihr, dass Valentina bemerkt, wie blass seine Brauen sind, seine Wimpern sind so hell, dass man sie kaum sieht.
»Ich habe dir gesagt«, erwidert sie mit eiskalter Stimme, »dass Thomas und ich nicht mehr zusammen sind. Ich habe nichts mehr mit ihm zu tun.«
Glens Augen verengen sich, und er zischt zurück: »Na, das stimmt aber nicht, oder, Valentina? Ich habe euch doch noch zusammen auf der Ausstellungseröffnung gesehen.«
Sie mustert ihn mit hartem Blick.
»Deine Bilder sind übrigens sehr interessant«, fährt Glen sarkastisch fort. »Wobei ich Thomas gesagt habe, dass sie für meinen Geschmack etwas zu vulgär sind. Er hat dich stark verteidigt.«
Sie wendet den Blick von ihm ab und starrt aus dem Fenster. Als er Thomas erwähnt, hämmert ihr Herz. Was haben die beiden gestern Abend besprochen? »Wenn du nicht aufhörst, mich zu belästigen«, zischt sie, »gehe ich doch zur Polizei.«
Darauf erwidert er nichts.
»Hast du mich gehört? Ich meine es ernst!« Sie dreht sich erneut zu ihm um. Doch zu ihrem Erstaunen ist Glen fort und der Platz neben ihr leer. Sie blickt sich im Raum um, kann ihn jedoch nirgends entdecken. Hat sie sich nur eingebildet, dass Glen hier war? Doch sein Geruch hängt noch in der Luft.
Hinter sich vernimmt Valentina ein klangvolles Lachen. Sie erkennt es sofort. Von einer Gefühlswelle übermannt, umklammert Valentina ihr Champagnerglas und dreht sich um. Sie hat Thomas erst gestern gesehen, und dennoch fühlt sie sich von seiner Gegenwart wie gelähmt. Valentina kann nicht glauben, dass dieser Mann letztes Jahr um diese Zeit ihr gehört hat und sie ihn hat gehen lassen. Wie konnte sie nur so dumm sein? Jetzt steht er vor ihr, ist jedoch vergeben. An seinem Arm hängt die reizende Anita in ihrem dunkelroten Seidenkleid, das sich um ihren perfekten Körper schmiegt und nach Leidenschaft zu schreien scheint. Wie kann Valentina neben dieser prächtigen Frau mit den sinnlichen Rundungen, der blonden Mähne, den üppigen Lippen und den großen Geh-mit-mir-ins-Bett-Augen bestehen? Jeder Mann träumt von so einer Frau. Anita sieht in ihre Richtung, ihre Blicke kreuzen sich. Die Rivalin lächelt ihr zu. Valentina ist klar, dass Anita die Sehnsucht in ihren Augen liest. Anitas Lächeln verstärkt sich, und ihre Augen werden dunkler. Es ist offensichtlich, was sie denkt. Anita sieht äußerst selbstzufrieden aus.
Maria
Maria erwacht und merkt gleich, dass Felix weg ist und sie allein im Bett liegt. Sofort setzt sie sich alarmiert auf. Etwas fühlt sich anders an. Eine schwache Brise streicht durch die Blätter der Bäume vor dem Fenster und weht den Duft des Sommers ins Zimmer. Das Rascheln erinnert sie an den Wind, der über die venezianische Lagune streicht, und auf einmal hat sie Sehnsucht nach Zuhause. Könnte sie Felix überreden, mit ihr nach Venedig zu fahren, um ihre Mutter und Pina zu besuchen? Es wäre Maria lieber, sie wären erst verheiratet. Aber dazu muss sie wissen, ob Felix’ Frau noch lebt.
Es muss noch sehr früh sein, denn von der Straße dringt wenig Lärm herauf. Wohin ist Felix gegangen? Wahrscheinlich war er hungrig und besorgt in der Boulangerie ein paar Croissants. Doch etwas im Zimmer fühlt sich anders an. Maria ist
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