Verborgene Lust
gefolgt war, um ihr das Bild zu stehlen, das ihr Geliebter bereits gestohlen hatte; die Übergabe des Bildes an die alte Mrs. Kinder, die ursprüngliche Eigentümerin, die es durch den Betrug von Thomas’ Großvater im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, was sie zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht wusste. Obwohl sie sich das eigentlich nicht vorstellen konnte, hatte sie doch Angst gehabt, dass der Mann, den sie liebte, kein guter Mensch war. Erst später hatte sie erfahren, dass Thomas versuchte, die Schuld seiner Familie wiedergutzumachen. An jenem Abend traf Valentina Garelli im Hotel Danieli. Er war hinter Thomas her. Was sie damals jedoch völlig schockiert hatte, war eine Äußerung, die überhaupt nichts mit der ganzen Geschichte des gestohlenen Gemäldes zu tun hatte: Ihr Vater wäre stolz auf Sie .
Valentina stellt ihren Kaffeebecher ab, steht auf, geht zu ihrem Schreibtisch und zieht die oberste Schublade heraus. Mit der Hand durchsucht sie das Durcheinander aus Papieren, Stiften, Radiergummis und Klebenotizen. Sie ist sicher, dass sie sie zum letzten Mal hier drin gesehen hat. Als sie sich vorbeugt und die Hand ganz nach hinten auf die Rückseite der Schublade schiebt, ertasten ihre Finger eine zerknitterte Karte. Sie zieht sie heraus. Es ist Garellis Visitenkarte. Sie wirkt etwas mitgenommen, aber die Schrift ist noch immer deutlich zu erkennen. Sie blickt auf die Wanduhr. Erst in sechs Stunden trifft sie sich mit Antonella, sie hat also jede Menge Zeit, Garelli anzurufen und mit ihm zu sprechen, bevor sie aufbricht. Natürlich könnte sie das auch tun, wenn sie aus London zurück ist, aber plötzlich muss sie sofort wissen, was Garelli mit seiner Bemerkung gemeint hat. Woher kennt er ihren Vater?
Valentina sitzt in der Bar Magenta und tippt ungeduldig mit den Hacken auf den Boden, während sie wartet. Sie streicht ihr schwarzweißgestreiftes Kleid glatt und lächelt insgeheim über ihre Wahl. Antonella wird sie am Flughafen unmöglich übersehen können. Wie immer fällt sie auf: Das lange figurbetonte Kleid ist auf einer Seite bis zum Oberschenkel geschlitzt. Dazu trägt sie ihre schwarzen Carl-Scarpa-Stiefel mit Keilabsatz und die kleine schwarze Bikerjacke aus Leder. Das Kleid hat einmal ihrer Mutter gehört, die sich in Valentinas Augen mehr Sorgen um ihre Garderobe als um ihre Kinder gemacht hat. Es sieht so gut wie neu aus. Unruhig streicht sie sich über eine Braue und trinkt einen Schluck von ihrem Negroni. Vielleicht war das doch keine gute Idee. Vor weniger als sechs Monaten war Garelli hinter Thomas her, weil er ihn des Kunstraubs verdächtigte. Seither hat sie den Polizisten nicht mehr gesehen und angenommen, der Fall sei zu den Akten gelegt worden. Es ist allerdings ein Risiko, alles wieder aufzuwärmen. Kann man sie als Komplizin anklagen, weil sie das Gemälde von Mailand nach Venedig transportiert hat? Vielleicht sollte sie einfach gehen.
Doch als sie gerade den Rest ihres Cocktails ausgetrunken hat und aufbrechen will, betritt Garelli die Bar. Er sieht sie sofort und strahlt sie an, als seien sie alte Freunde.
»Valentina«, begrüßt er sie, beugt sich hinab und küsst sie auf beide Wangen. »Sie sehen wie immer bezaubernd aus. Wie ein Gemälde. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
»Nein, danke.«
»Aber Sie haben Ihren gerade ausgetrunken. Ich bestehe darauf.«
Valentina nimmt einen großen Schluck von ihrem Cocktail. Nun, da Garelli ihr gegenübersitzt und sie erwartungsvoll ansieht, weiß sie nicht recht, wie sie anfangen soll. In ihrer Verwirrung sagt sie nichts und blickt finster auf ihr Glas.
»Nun, Valentina«, sagt Garelli schließlich, der offenbar langsam ungeduldig wird. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie hebt den Blick und versucht die richtigen Worte zu finden. Aus irgendeinem Grund ist es ihr überaus peinlich, diesen quasi fremden Mann zu fragen, wo ihr Vater ist. Fast schämt sie sich.
»Haben Sie vielleicht weitere Informationen über Thomas Steen?«, mutmaßt er und hebt eine Braue. »Ich glaube allerdings, dass er nicht mehr in Mailand ist und somit genau genommen nicht mehr unser Problem.«
Er sieht sie milde an. Valentina reagiert leicht gereizt. Wieso gibt er sich so gönnerhaft?
»Nein, es geht nicht um Thomas«, antwortet sie.
»Ach?«
»Als wir uns in Venedig begegnet sind, haben Sie etwas … über meinen Vater gesagt.« Sie stottert.
Garelli schweigt und sieht zu, wie sie sich vor ihm windet.
»Sie sagten, er wäre stolz auf mich. Und dass
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