Verborgene Lust
»Und? Wie geht es deiner Frau und deinem Kind?«
»Lucia ist jetzt sieben.« Seine Augen strahlen, und sein väterlicher Stolz schmerzt Valentina. »Sie ist hinreißend, ein echtes Energiebündel. Und so englisch. Das ist lustig!«
Valentina nickt höflich und will sich auf den Weg zu den anderen machen, aber Francesco fasst ihren Arm.
»Meine Frau und ich sind geschieden«, platzt es aus ihm heraus.
»Ach.« Sie sieht ihm in die Augen. »Das tut mir leid.«
»Ich bin nie über dich hinweggekommen, Valentina«, flüstert er.
Sie ist leicht gereizt. Wie kann er es wagen, ihr das nach all der Zeit zu sagen?
»Warum bist du dann nicht zu mir zurückgekommen?«
»Deine Mutter … hat das verhindert«, stammelt er. »Und wegen Lucia. Ich musste es ihr zuliebe zumindest versuchen.«
Valentina schiebt seine Hand von ihrem Arm.
»Nun, wie dem auch sei«, sagt sie und geht weiter. »War nett, dich zu sehen.«
»Wer ist der Mann, mit dem du gesprochen hast?«, will Antonella wissen, kaum dass Valentina wieder sitzt. Valentina blickt an ihr vorbei. Sie sieht, dass Francesco sich mit zwei Männern trifft, die beide jünger und lässiger gekleidet sind als er. Er blickt noch immer mit unverhohlenem Interesse zu ihr herüber.
»Ja, Valentina.« Isabella betrachtet die Männer mit wohlwollendem Blick. »Wer sind die? Der Kerl in dem blauen Hemd gefällt mir. Der ist süß.«
»Aber viel zu jung für dich, Tantchen«, ärgert Antonella sie.
»Wer sagt das?«
» Dieser Mann«, unterbricht Valentina und streicht mit dem Finger über den Rand ihres Glases, »war meine erste große Liebe.«
»Francesco?«, zischt Antonella. »Der verheiratete Kerl?«
»Ja, aber er ist nicht mehr verheiratet.«
»Interessant«, stellt Isabella fest, schlägt die Beine übereinander und lächelt anzüglich. »Dieser Mann hat dich also entjungfert?«
Valentina blickt durch das volle Restaurant zu Francesco und seinen Freunden hinüber. Ihre erste große Liebe starrt zurück. »Ja«, erwidert sie, während sie langsam begreift, dass sie jetzt endlich Antworten auf ihre Fragen erhalten kann. Hat Francesco sie je so geliebt wie sie ihn?
Sie beobachtet, wie er sich hinüberbeugt und mit den beiden jungen Männern spricht, die daraufhin im selben Moment zu den drei Frauen herübersehen. Valentina registriert ihre anerkennenden Blicke, unter denen ihre zwei Begleiterinnen sich in Positur setzen.
»Ich glaube, meine Damen«, Isabella lässt jedes Wort genüsslich über ihre Zunge rollen, »der Abend hat gerade erst begonnen.«
Maria
Maria denkt an Pandora: die schöne seelenlose Frau, die die eifersüchtigen Götter mit einer Büchse auf die Erde schicken. Gebannt von ihrer Schönheit, bemühen sich die Menschen, die Büchse zu öffnen. Doch als ihnen das gelingt, gelangt nicht Glück, sondern alles Elend auf die Welt. Lempert erklärt, dass es bei dem Tanz der Pandora um den Konflikt zwischen Gut und Böse geht. Joan als Pandora mit Schlangenkopf, rotem Schleier und Rock steht Psyche gegenüber, die von der rothaarigen Alicia getanzt wird. Sie ist ganz in Weiß gekleidet. Joans kräftiger sinnlicher Körper bildet einen Kontrast zu der schlanken, hochgewachsenen Gestalt von Alicia. Maria sieht darin den Kampf zwischen Körper und Geist, zwischen Gefühl und Vernunft. Seit sie Felix begegnet ist, versteht sie diesen Konflikt. Er scheint ihr aus jeder Ecke ihres Lebens entgegenzuschreien. Wenn sie ins Kino gehen und den Film Die schwarze Narzisse sehen, identifiziert sie sich nicht etwa mit Deborah Kerrs Schwester Clodagh, sondern mit der sexuell frustrierten Schwester Ruth. Die letzten Bilder von Schwester Ruth, die nun keine Nonne mehr ist und die Türen des festungsähnlichen Klosters auf dem stürmischen Berggipfel im Himalaya öffnet, gehen Maria nicht mehr aus dem Kopf. Mit dunklen Augen, blassen Lippen und offenen Haaren steht Ruth in einem roten Kleid auf dem rauen Berg, und Schweißperlen der Lust treten auf ihre Stirn. Sie ist nicht von etwas Bösem besessen, sondern von ihrer Lust. Maria empfindet Mitleid mit Ruth und Abneigung gegen die prüde Schwester Clodagh. Noch schlimmer als sie ist der Vertreter des Generals, Mr. Dean, der Schwester Ruth zurückweist. Maria will, dass etwas geschieht. Sie sehnt sich nach Leidenschaft, doch der Film endet mit dem Tod. Anscheinend lautet die Botschaft des Films, dass eine Frau, die ihrer Lust folgt, verloren ist.
Der Lieblingsfilm ihrer Mutter Belle ist Pandora mit Louise Brooks. Er
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