Verborgene Lust
einstellen.«
»Das hat deine Tante Isabella gesagt?!«
»Ja, sie ist auf der Jagd.« Antonella kichert.
Valentina verdreht die Augen.
»Warum macht sie nicht etwas Gesetzteres, so etwas wie Internetdating?«
»Das hat sie schon versucht und meinte, sie hätte nur einen Haufen Perverser getroffen. Sie sagt, es sei besser, jemanden erst in natura zu sehen, bevor man irgendwelche Signale aussendet.«
Jetzt hat Valentina noch weniger Lust auszugehen. Eine Aufreißnacht mit Antonella und ihrer extravaganten Tante ist wirklich das Letzte, was sie reizt.
Sie lässt sich auf ihr Bett fallen und überlegt, Antonella von Glen, Thomas und dem gescheiterten Besuch bei ihrem Vater zu berichten, aber sie weiß nicht recht, wo sie anfangen soll.
»Wo warst du den ganzen Tag über?«, fragt Antonella plötzlich, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Ich war in der Galerie in Soho, aber da warst du nicht.«
Valentina spielt mit der Daunendecke.
»Ich bin einfach herumgelaufen und habe nachgedacht.«
Antonella hört auf, Kleider aus ihrem Koffer zu räumen, und blickt zu Valentina.
»Hast du dich entschieden?«
Im ersten Augenblick denkt Valentina, Antonella meine Thomas und Anita, dann fällt ihr ein, dass sie ja gar nichts von der Begegnung erzählt hat.
»Entschieden?«
»Ob du deinen Vater besuchst?«
Sie senkt den Blick, sie will Antonella nicht sagen, dass sie bereits dort war, aber weggelaufen ist.
»Vielleicht.«
»Du hast nichts zu verlieren, Valentina.«
Aber da täuscht sich ihre Freundin. Es steht alles auf dem Spiel: ihre ganze Beherrschung, die sie über so viele Jahre aufgebaut und die Thomas bereits geschwächt hat.
»Meinst du nicht, es ist zu spät?«, fragt sie leise.
Antonella holt ein knallrotes Minikleid heraus, hält es vor ihre vollbusige Figur und betrachtet sich im Spiegel.
»Es ist nie zu spät, Valentina.«
Valentina muss zugeben, dass sie sich tatsächlich auf die Vorstellung der Crazy Horses freut. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter ihr davon erzählt hat, als sie die Gruppe vor Jahren in Paris gesehen hatte. Sie hatte auch gesagt, dass das Kabarett auf die Originalvorstellung aus den Fünfzigerjahren zurückginge, als Paris eine kulturelle Hochburg war. Valentina wünschte, sie könnte in der Zeit zurückreisen und die Originalvorstellung sehen.
In der ersten Nummer zeigen sich die neun fast nackten Mädchen in einer Aufmachung, die an die Wachen vor dem Buckingham Palace erinnert. Sie tragen sogar eine Bärenfellmütze auf dem Kopf, marschieren und salutieren. AufValentina wirken sie wie Mannequins, nicht wie echte Frauen. Sie sind groß, haben lange Beine, perfekte Pos, hübsche Brüste und ausdruckslose Gesichter. Es ist etwas überraschend und nicht ganz das, was Valentina erwartet hat. Isabella und Antonella sind ganz offensichtlich begeistert, doch Valentina findet die Tänze nicht erotisch. Wodurch wird etwas sexy? Durch Gleichförmigkeit? Sie würde gern Unterschiede sehen. Eine kleinere Frau, einen Bauch, etwas breitere Schenkel oder eine stärkere Brust. Diese Mädchen sehen alle gleich aus.
Ein Tanz gefällt ihr allerdings sehr. Ein nacktes Mädchen schwingt im Kreis die Arme durch die Luft. Dabei folgt ein weißer Lichtbogen ihren Händen, in dem Schattenrisse von Blumen erscheinen. Der Tanz ist langsam, melodisch und ergreifend, seine sanfte Natürlichkeit macht ihn erotischer als die expliziten Tänze.
Isabella ist begeistert von der Vorstellung, aber überaus enttäuscht von dem übrigen Publikum.
»Ach je«, sagt sie, als das Licht angeht, »ich sehe keinen einzigen Mann, der allein hier ist.«
Tatsächlich besteht das ganze Publikum aus Paaren oder Frauengruppen.
»Kommt, Mädchen.« Isabella geht zwischen Valentina und Antonella und hakt sich bei ihnen ein. »Habt ihr Hunger?«
Sie verlassen das Theater und gehen die South Bank entlang Richtung Westminster. Von der Themse weht ein starker Wind herüber. Als sie die ersten Regentropfen auf ihrem Kopf spürt, zittert Valentina.
»Ach, dieses scheußliche englische Wetter«, knurrt Isabella, beschleunigt ihren Schritt und zieht sie eilig mit sich.
Sie essen in einem brasilianischen Restaurant und unterhalten sich bei einem Caipirinha über die Vorstellung.
»Es ist doch seltsam, dass die meisten Frauen gern den nackten Körper anderer Frauen betrachten, ohne zwangsläufig lesbisch zu sein«, stellt Antonella fest, während sie sich an dem Teller mit Nachos zu schaffen macht. »Dass sie es sexy finden. Ich
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